Wenzel am Wenzelsplatz, Teil II

Strategisch günstig steht er an erhöhter Stelle. Genau über den nach ihm benannten Wenzelsplatz (Václavské náměstí) blickend, wird er so seinem Status als Touristenmagnet und – vor allem – tschechischer Nationalheiliger voll gerecht. Denn Nationalheiliger ist der Heilige Wenzel (Svatý Václav), der zu denjenigen frühen Herrschern Böhmens gehörte, die das Christentum im Lande ausbreiten wollten, unbestritten. Dass er dann noch zum Glaubensmärtyrer stilisiert werden konnte, weil sein Bruder Boleslav ihn um 929 (oder 935) umbrachte, tat das Übrige dazu – obwohl die Gründe des Mordes möglicherweise eher politischer und weniger religiöser Natur waren. Aber offiziell ist er ein Glaubensmärtyrer. Und der Nationalheilige iwurde damit sozusagen seine historisch definierte Rolle.

Trotzdem änderten sich Deutung und Darstellung Wenzels im Laufe der Jahrhunderte. Jede Zeit sah ihn anders. Die 1912 von dem Bildhauer Josef Václav Myslbek geschaffene und 1913 aufgestellte große Reiterstatue des Heiligen Wenzel auf dem Wenzelplatz ist in jeder Hinsicht ein Produkt des wachsenden Nationalismus der Tschechen im Habsburgerreich vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Wie sich die künstlerische Interpretation des Wenzel im Laufe der Zeit veränderte, kann man nicht zuletzt daran erkennen, welche der qua Tradition festgelegten ikonographischen Attribute bei der Darstellung wie verwendet wurden. Die Heiligenattribute des Wenzel (die man in diesem früheren Beitrag sehen kann) sind in de Regel der Herzogshut (eine purpurne Krone), ein Schild mit dem Wenzelsadler, eine Lanze mit Fahne, nicht zwingend ein Pferd, auf dem er reitet, und ebenfalls nicht zwingend ab und an eine segnende Handhaltung.

Der Wenzel, den wir heute hier sehen, ist nicht der erste, der den Platz schmückte. Schon im Jahre 1680 wurde weiter unten/östlich eine von dem Bildhauer Johann Georg Bendl angefertigte Reiterstatue im Barockstil errichtet, die wir im letzten Beitrag vorstellten (trotzdem rechts noch einmal ein Bild davon). Die wurde 1879 in den Dombezirk des Vyšehrad versetzt. Sie zeigt Wenzel als gütigen Friedensherrscher und Schutzpatron. Er trägt den Herzogshut und sieht weihevoll aus, um das Herrschaftideal der absolutistisch regierenden Habsburger ins gute Licht zu stellen. Keine Waffe – weder Lanze noch Schild! Als der liberale Nationalismus der Tschechen im 19. Jahrhundert erstarkte, musste eine solche Art der Darstellung ihres Nationalheiligen völlig anachronistisch und politisch unpassend wirken. Nicht, dass Wenzel keine Rolle für die national Beseelten damals spielte. Es waren ja die Revolutionäre des Jahres 1848, die damals dem bisherigen Rossmarkt (Handelsplatz für Pferde) überhaupt den neuen Namen Wenzelsplatz gaben. Aber man sah in Wenzel nun etwas anderes.

Der heutige Wenzel von 1913 trägt kein monarchisches Symbol wie den Herzoghut. Stattdessen ist er kämpferisch gestimmt mit einem (ikonographisch völlig inkorrekten) Kriegerhelm und Kettenhemd bedeckt. Und natürlich trägt er Schild und Lanze. Das Pferd schreitet so voran, als ob Wenzel kurz davor wäre, zum Angriff aufzurufen. Diese Darstellung war kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung. Man hätte eine Alternative gehabt. Denn die Geschichte des neuen Denkmals begann kurz nach dem Abtransport des Bendlschen Denkmals. Emilián Skramlik, der 1880 zum Ritter geschlagene Bürgermeister Prag in den Jahren 1876 bis 1882, initiierte kurz nach Amtsantritt eine große Sammlung für ein neues Wenzelsdenkmal, dessen Gestaltung in einem Künstlerwettbewerb entschieden werden sollte, an dem sich bedeutende Künstler Böhmens beteiligten. Der Wettbewerb wurde erst 1894 realisiert.

Die von Rat einberufene Jury konnte sich auf keinen Spitzenreiter einigen, sondern vergab zwei zweite Plätze. Der eine war der Entwurf von Myslbek, der andere stammte von dem damals überaus bekannten Bildhauer Bohuslav Schnirch (wir berichteten über ihn bereits u.a. hier, hier, hier hier und hier). Dessen Entwurf hätte Wenzel – konventioneller, wenngleich auch etwas von der klassischen Ikonographie abweichend – mit Heiligenschein und segnender Hand gezeigt.

Das hätte ein wenig der Grundidee der Bendlschen Barockstatue als gütiger Schutzpatron geähnelt, wobei durch den Verzicht auf den Herzogshut auch hier das monarchische Element bewusst wegfiel. Es gab stürmische Debatten – auch in der Öffentlichkeit und Presse – und beide Bildhauer besserten ab und an die Entwürfe ein wenig nach, um ihre Wettbewerbsposition zu verbessern. Aber am Ende entschloss sich die Jury ganz im Sinne des gewünschten nationalpatriotischen Anliegens für die etwas kriegerischere Myslbek-Variante. Wen es interessiert, der kann heute im Schloss des Stadtteils Zbraslav (auch hier) einen früheren Entwurf Myslbeks (in etwas kleinerem Format) bewundern (Bild rechts oberhalb).

7,2 Meter Höhe mit Lanze und immer noch satte 5,5 Meter ohne Lanze. Dazu 5,5 Tonnen Gewicht, obwohl die Statue innen hohl ist. Ein solch großes Denkmal braucht auch einen großen Sockel. Den baute der bekannte Architekt Alois Dryák (frühere Beiträge u.a. hier hier und hier) in einem sehr strengen Jugendstil. Für diesen Sockel plante man eine zusätzliche skulpturale Ausstattung. Der Bildhauer Celda Klouček wurde beauftragt, jede der vier Ecken mit je einem zusätzlichen Nationalheiligen zu schmücken – Böhmen war ja schließlich zu bedeutend, um nur mit einem auszukommen. Geplant waren die Heiligen Prokop (Bild rechts),  Ludmilla (Wenzels Großmutter über die wir u.a. hier und hier berichteten, und die wir im Bild oberhalb links sehen), Adalbert (erwähnt hier) und  Iwan (siehe hier). Heute würde man vermuten, dass hier die Frauenquote durchgesetzt wurde, aber wahrscheinlich war es die Erwägung, dass die Heilige Agnes als große Klostergründerin in Prag für die Tschechen eine bedeutendere historische Rolle spielte als der Eremit Iwan. Man beschloss also, dass es nicht Iwan, sondern Agnes sein sollte, was zur Folge hatte, dass erst 1924 sie als vierte Statue hinzufügt wurde.

Es ist fast unnötig zu sagen, dass der gemeinhin auch als großer böhmischer Heiliger geführte Nepomuk nicht dabei ist. Sein Kult war so sehr mit der von den Habsburgern nach dem Dreissigjährigen Krieg betriebenen Gegenreformation verbunden, dass er für patriotische Tschechen der Zeit geradezu inakzeptabel war. Da war etwa der Heilige Prokop, der in dem von ihm 1032 gegründeten Kloster Sázava entgegen der offziellen Lehre in statt Latein die Messe las, definitiv der geeignetere Kandidat. Oder auch die Heilige Ludmilla, die ja den jungen Wenzel zum christlichen Glauben erzogen hatte und durch zwei von ihrer machtgierigen Schwiegertochter geheuerte Mordbuben den Märtyrertod fand.

Und nicht zu vergessen die Heilige Agnes (Bild rechts), die neben dem erwähnten Kloster auch noch 1232 den wohltätigen Ritterorden der Kreuzherren mit dem roten Stern gegründet hatte, und sowieso eine Königstochter (deshalb mit Krone dargestellt) aus dem Haus der Přemysliden war. Nicht zu vergessen Adalbert, der ebenfalls nicht nur Klostergründer war, sondern auch nocht ehrenvoll Märtyrer wurde, als er 997 die Balten missionieren wollte und von denen mit einem Ruder erschlagen wurde, das dann normalerweise auch sein Heiligenattribut wurde. Da Klouček eine einfache und optisch einheitliche Darstellung der vier Heiligen wollte, ließ er das aber weg und gab in seinen Bischofsstab in die Hand (Bild oberhalb links).

Man erahnt bei Betrachten es kaum, aber bei den Darstellungen von Wenzel und seinen vier Nationalheiligen haben beide Bildhauer – Klouček und Myslbek – ab und an Portraits realer Zeitgenossen eingearbeitet. So hat Klouček dem Heiligen Adalbert das Gesicht des damaligen Prager Erzbischofs Franziskus von Schönborn und dem Heiligen Prokop das von Myslbek gegeben. Myslbek hat sich ebenfalls in der Portraitkunst geübt, aber nicht bei Wenzel, sondern bei seinem Pferd. Dafür hat nämlich ein damals siebenjähriger Oldenburger Hengstrappe namens Ardo (Myslbek hat ihm übrigens 1899 eine eigene kleine Statue gewidmet) Modell gestanden, der dem Gutsbesitzer und Kunstmäzen Alexandr Brandejs gehörte und in seinem Stall auf dem Gut Na Panenské seine Heimstatt hatte, wo er auch portraitiert wurde. Das Pferdeportrait verlangte Myslbek übrigens einiges an statischer Rechenkunst ab, da das Pferd nur auf zwei (dünnen!) Beinen steht.

Rund um den Denkmalssockel zieht sich übrigens ein Schriftzug auf Tschechisch. Der Spruch stammt aus dem St.-Wenzels-Choral (Svatováclavský chorál), einer der ältesten tschechischsprachigen Kirchenhymnen aus dem 12. Jahrhundert. In Übersetzung lautet der Text der Zeile etwa: „Heiliger Wenzel, lass uns und die Künftigen nicht untergehen!“ (Original: Svatý Václave, nedej zahynouti nám, ni budoucím). Das kombinierte den Schutzheiligen Wenzel mit dem nationalistisch deutbaren Ewigkeitsmythos der böhmisch-tschechischen Nation. Den Choral hatte man übrigens anlässlich der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei 1918 eine zeitlang als Nationalhymne in Betracht gezogen, bevor man sich für das 1834 entstandene Lied Kde domov můj? (Wo ist meine Heimat?) des Dramatikers und Josef Kajetán Tyl und des Komponisten ‎František Škroup entschied. Aber die Zeilen aus dem Wenzelschoral waren und blieben trotzdem immer ein Stück Gemütsdichtung für tschechische Patrioten und fanden sich daher häufig auch auf Fassaden bürgerlicher Häuser im späten 19. Jahrhundert (ein Beispiel zeigten wir hier).

Und auch bei den Begräbnissen der beiden bedeutenden Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk und Václav Havel wurde der Choral gesungen. Das Denkmal mit den Statuen und der Inschrift wurde schnell nach seiner Aufstellung ein Zentrum. Um das Denkmal herum feierte man erstmals am 28. Oktober 1918 um 11 Uhr öffentlich die von dem Schriftsteller Alois Jirásek (den erwähnten wir u.a. hier) verlesene Proklamation der Ersten Republik, wofür man 1935 eine Gedenktafel im Boden vor dem Denkmal einließ. Kurz darauf, im Jahre 1919, errichtete man ein temporäres Denkmal in Form eines Mausoleums für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, wobei man besonders die der Tschechoslowakischen Legionen hervorhob, die nicht ihrem (österreichischen) Kaiser gedient hatten, sondern mit der Entente für die Unabhängigkeit gekämpft hatten, worüber wir u.a. hierhierhier und hier berichteten.

Fast alle großen historischen Volks-, Freiheits- und Nationalmanifestationen des Landes fanden hier statt. Als es angesichts der Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968 zu riesigen und verzweifelten Demonstrationen gegen die sowjetisch angeführten Invasoren des Warschauer Pakts kam, war der Ort der der größte von ihnen selbstredend der Platz um das Denkmals des heiligen Wenzel. Und es war kein Zufall, dass sich der Student Jan Palach am 16. Januar 1969 hier ganz in der Nähe aus Protest selbst verbrannte. Und dass die Demonstrationen im November 1989 rund um den guten Wenzel das Ende der kommunistischen Tyrannei einläuteten, ist ein weiterer Beleg für die national-republikanische und freiheitliche Tradition, die sich mit Platz und Denkmal verbinden.

Die Möglichkeit, rund um das Denkmal Großdemonstrationen veranstalten, verdankte man übrigens der Hartnäckigkeit Myslbeks, der sich die ganze Zeit energisch gegen Pläne zu wehren hatte, die Statue auf den Treppenaufgang des Nationalmuseums am östlichen Ende des Platzes zu platzieren. Sie wäre dann von Publikum entrückt gewesen und der Platz selbst hätte ganz wesentlich an visueller Attraktivität verloren. Gottseidank setzte sich der Künstler durch und der Heilige Wenzel wurde zu einem Kernstück der öffentlichen Kultur des Landes – und nebenbei zu einem Touristenmagneten. Mitten auf dem nach ihm benannten Platz. Als solcher wird er heutzutage natürlich sorgfältig gehegt und gepflegt.

1975 schützte man ihn vor dem Touristenandrang mit einer Umzäunung, die aus einer großen und dekorativ-passenden Bronzekette besteht, die der Bildhauer und Medailleur Zdeněk Kolářský gestaltet hatte (Bild rechts). 1995 – eigentlich recht spät, wie ich finde – erklärte man ihn zum nationalen Kulturdenkmal, und dann im Jahre 2003 begann man mit einer sorgfältigen Restaurierung, die pünktlich zum Unabhängigkeitstag (der ja, wie gesagt, jedes Jahr am 28. Oktober stattfindet) im Jahre 2005 vollendet wurde. Für die Pflege des Denkmals ist übrigens die Stadt Prag, die dereinst durch den Künstlerwettbewerb seine Erschaffung angestoßen hatte, zuständig, und die mit dem guten Wenzel ein herausragendes Wahrzeichen gewonnen hat. (DD)

Siehe auch: Wenzel am Wenzelsplatz, Teil I


Hinterlasse einen Kommentar