
Es ist statistisch belegt, dass die Mehrzahl aller Morde in der eigenen Familie stattfinden. Die Heilige Ludmilla (Svatá Ludmila) hätte als Mitglied der großen, von Machtinteressen durchsetzten Herrscherfamilie der Přemysliden gewarnt sein müssen. Dass sie dann tatsächlich wohl im Auftrage ihrer Schwiegertochter ermordet wurde, sicherte ihr aber immerhin den Märtyrerinnen- und Nationalheiligenstatus in Böhmen. Der Mord am 15. September jährt sich heuer zum 1100sten Male. Und des Ereignisses wird in Tschechien dieses Jahr ordentlich gedacht.

Auf der Karlsbrücke nimmt ihre Statue eine prominente Stelle in der Mitte ein. Sie durfte da auch nicht in der Galerie der dort befindlichen Heiligen fehlen, denn sie ist die böhmische „Ur-Christin“ schlechthin. Ludmilla war die Ehefrau des böhmischen Přemysliden-Herrschers Bořivoj I., der der erste wirklich historisch belegte Vertreter des Geschlechts ist. Die Christianslegende, eine im 10. Jahrhundert entstandene Geschichtschronik, überliefert, dass er sich um das Jahr 883 am mährischen Hof taufen ließ, um somit der erste christliche Herrscher in Böhmen zu werden. Und seine Frau Ludmilla, die ihn wohl um 874 im Alter von 14 Jahren geheiratet hatte, ließ sich bei dieser Gelegenheit oder möglicherweise kurze Zeit darauf in Böhmen ebenfalls taufen.
Aber es ging dabei nicht nur um das persönliche Seelenheil zweier Menschen. Bei alledem spielte natürlich auch die große Politik ihre Rolle. Die Taufe des Herrscherpaars warf Fragen auf. Irgendwie ging es dabei auch um die Frage der Zukunft Böhmens, das noch am Anfang seines Aufstieges als staatliches Machtzentrum stand. Das Christentum mag hier unter den einzelnen Stammesfürsten umstritten gewesen sein, wenngleich wohl weniger als später überliefert. Dann war da die Frage, ob man sich an die byzantinische Ostkirche, möglicherweise mit einer slawischen Liturgie verbunden, band, oder an die fränkische (deutsche) Kirche, die auf Latein bestand, und bei der Kirchenfürsten eine höhere politische Funktion ausübten. Letzteres kam den Macht- und Zentralisierungsbestrebungen der Přemysliden-Herrscher mehr entgegen.

Das alles braute sich über Ludmilla zusammen. Sie wurde um 889 Witwe. Zunächst regierte danach ihr ältester Sohn Spytihněv und nach dessen Tod 915 sein Bruder Vratislav I., der Böhmen durch den Bau zahlreicher Burgen und Kirchen weiterentwickelte. Nach dessen Tod wurde seine Frau Drahomíra, eine Westslawin, von den Stammesfürsten zur Regentin für den gemeinsamen minderjährigen Sohn Václav (Wenzel), dem späteren Heiligen Wenzel gewählt. Allerdings sollte ihre Schwiegermutter Ludmilla für die Erziehung des jungen Wenzels und dessen jüngeren Bruders Boleslav zuständig sein. Streit war damit geradezu vorprogrammiert. Die Hagiographie um Ludmilla behauptete später, dass Drahomíra eine Heidin gewesen sei, was möglicherweise nicht stimmte, aber als Behauptung später die Heiligsprechung Ludmillas beförderte. Eher schien sie den sächsisch/ostfränkischen (Stichwort: Heinrich I.) Einfluss in Böhmen zurückdrängen zu wollen, während Ludmilla eine engere Verbindung befürwortete. Es ging also primär um Politik. Und da besaß Drahomíra als Regentin kurzfristig mehr unmittelbare Machtmittel. An besagtem 15. September 2015 ließ sie Ludmilla kurzerhand von zwei gedungenen Mördern auf Burg Tetín südlich von Prag mit ihrem eigenen Halstuch erdrosseln. Und so wird die gute Ludmilla auch in der christlichen Ikonographie seither gerne dargestellt: Mit ihrem Halstuch in der Hand. So sehen wir sie oben im großen Bild als Statue auf der Karlsbrücke.

Drahomíra begann nach vollbrachter Tat sofort damit, hauptsächlich deutsche Mönche und Missionare aus dem Land zu vertreiben. Doch ihre Macht ging immer mehr dem Ende zu als der junge Wenzel irgendwann zwischen 922 und 925 volljährig wurde. Da zeigte sich, dass wohl die langfristigen pädagogischen Impulse der Großmutter wirksamer waren als die kurzfristigen Gewaltmethoden der Mutter. Wenzel fuhr einen deutschfreundlichen Kurs und verbannte Drahomíra aus dem Lande. Als er sie einige Jahre später wieder am Hofe aufnahm, war ihre Macht aber gebrochen. Die Geschichte war damit nicht zu Ende, denn bei dem jüngeren Bruder Boleslav hatte die Erziehung durch Großmutter Ludmilla nicht so recht gefruchtet. Oder vielleicht fühlte er sich als Zweitgeborener sowieso immer frustriert und zu kurz gekommen. Auf jeden Fall ließ der um das Jahr 929 oder 935 (weiß man leider nicht so genau) seinen Bruder Wenzel in Mladá Boleslav umbringen – nicht mit einem damenhaften Halstuch, sondern mit Hieb- und Stichwaffen. Auch diese Szene befindet sich auf dem Sockel der Ludmilla-Statue auf der Karlsbrücke, weil sie dorch eng mit der Geschichte der Heiligen verwoben ist. Bruder Boleslav, nun Herzog der Böhmen, ging nun im Geiste seiner Mutter gegen fränkische Gesitliche und auch mit Erfolg gegen sächsische Heere vor – bis er seinen Meister im deutschen Kaiser Otto I. (dem Großen) fand, dem er 950 die Treue schwur. Die hielt er auch und kämpfte 955 sogar tapfer an des Kaisers Seite bei der Schlacht auf dem Lechfeld gegen die ungarischen Invasoren. Er soll sogar persönlich deren Anführer Lehel besiegt haben. Und die Verbindung zwischen dem Deutschen/Römischen Reich gedieh von nun an fruchtbringend.

Jedenfalls durch ihren in den selben historischen Kontext gehörenden gewaltsamen Tod, haben es Ludmilla und ihr Zögling Wenzel zum Heiligenstatus gebracht – beide wohl schom im 10. Jahrhundert. Ironischerweise wurden gerade sie, die sie ihren deutschfreundlichen politischen Kurs mit dem Leben bezahlten, für die Tschechen immer mehr zu den eigentlichen großen Nationalheiligen. Deshalb durfte Ludmilla auf der Heiligengalerie der Karlsbrücke selbstredend nicht fehlen. Verlieren wir doch ein paar Worte zu dieser Statue: Die wurde im Jahre 1730 durch den Bildhauer Matthias Bernhard Braun gestaltet. Von dem findet man auf der Brücke noch Statue des Heiligen Ivo und der Heiligen Luitgard. Zu dieser Zeit war die Ikonographie der Heiligen Ludmilla bereits gefestigt und verbindlich. Neben dem Halstuch musste immer der eine (gute) ihrer Zöglinge, der Heilige Wenzel, mit dabei sein. Der böse Bruder hat seine Schande nicht wiedergutmachen können, und gehört nicht dazu. Und so sieht man den kleinen Wenzel liebevoll zu Füßen der Großmutter – wie üblich ein frommes Buch lesend. Beide – Großmutter und Enkel – tragen einen sogenannten Herzogshut auf dem Haupte. Das ist so eine Art Krone für Herzöge. Wenzel trägt ihn als tatsächlicher späterer Herzog, Ludmilla als Herzogswitwe. Könige mit richtiger Krone wurden die Přemysliden erst 1158 unter Vladislav II., der den Titel aber noch nicht vererben durfte.

Wie dem auch sei: Ludmilla war in Böhmen immer eine populäre Heilige. Unzählige Kirchen sind nach ihr benannt – ein Beispiel präsentierten wir hier. Schon im Mittelalter wuchs ein Kult um sie. In der Zeit der Gegenreformation nach 1620 brauchte man sie nicht propagandistsich aufzubauen, wie den Heiligen Nepomuk (das erwähnten wir u.a. hier), der erst über 400 Jahre nach seinem Tod zum Heiligen wurde. Und im 19. Jahrhundert, der Zeit des wachsenden tschechischen Patriotismus im Habsburgerreich, kam noch eine leicht nationalistische Komponente hinzu.

Ludmilla war und blieb immer allgegenwärtig – allenfalls übetroffen von ihrem Enkel Wenzel. Kein Wunder, dass dieses Jahr in Prag und ganz Tschechien zum Ludmilla-Jahr erklärt wurde. Es gibt Veranstaltungen, Festkonzerte, Sondergottesdienste, wissenschaftliche Kolloquien, Kunstaktionen und große Ausstellungen – im Bild oberhalb links sieht man an der Wand der Akademie der Wissenschaften ein Plakat, das für die Ausstellung drinnen wirkt. Aber das ist nur einer von vielen Events. Denn natürlich sind auch dieKirchen in der Stadt überall mit Bildern der Heiligen geschmückt und machen auf das Festjahr aufmerksam – allen voran an der rechts abgebildeten Ludmilla Kirche in Vinohrady. Die Heilige, so mag man sich erhoffen, lockt mit ihrer immerwährenden Popularität die Menschen in die Kirchen. (DD)