Nationale Basilica minor

Der Vyšehrad, die mythenbeladene Burg auf der Höhe, die Wiege der Prags, wo die Urmutter Böhmens, die Fürstin Libuše, als Wahrsagerin auf die zukünftige Stadt Prag zeigte und sagte: „Ich sehe eine große Stadt, deren Glanz die Sterne berührt…“. Und dazu passt auch der Anblick der großen Basilika St. Paul und St. Peter (Bazilika svatého Petra a Pavla), die von weither sichtbare Landmarke des Vyšehrad. Ein Hauch von Mittelalter.

Nur…, dass es die damals nicht gab, und dass sie in heutiger Form erst seit dem frühen 20. Jahrhundert das Auge erfreut und in Wirklichkeit nur nachgeahmtes Mittelalter ist. Aber fangen wir von Anfang an. Menschliche Besiedlungsspuren gibt es auf dem Vyšehrad nach Auskunft der Archäologen schon seit der Jungsteinzeit und auch in den Zeiten der legendären Libuše (wohl im 7. Jh.) hinterließen die Frühslawen einige Keramikteile. Nur eben nichts, was belegen könnte, dass sich hier das Reich der Böhmen gebar. Erst Ende des 10. Jahrhunderts gibt es eine befestigte Siedlung mit Wallburg, die möglicherweise eine von Herzog Boleslav II. gegründete Münzspräge für die böhmischen Herrscher war, die aber selbst damals nicht hier, sondern in der nördlich gelegenen und bekannteren Prager Burg (Pražský hrad) residierten, und zwar seit Ende des 9. Jahrhunderts.

Ja, und tatsächlich: Die erste Kirche an dieser Stelle entstand erst um das Jahr 1070. Damals baute Herzog Vratislav II. hier erstmal eine richtige Burg auf und zu der gehörte auch gleich eine Kirche, die zu dem nunmehr neugegründeten Kollegiatkapitel St. Peter und Paul auf dem Vyšehrad unterstand. Dabei handelte es sich um eine dreischiffige Basilika im romanischen Stil. Alles in allem hatte damit Vratislav damit den Herrschersitz von der Burg hierhin verlegt. Der Grund dürften heftige Machtkämpfe mit seinem Bruder Jaromír, der als mächtiger Prager Bischof auf der Burg residierte. Der Umzug schadete Vratislav nicht, er wurde sogar im Jahre 1085 vom deutschen Kaiser Heinrich IV. auf der Reichsversammlung in Mainz Herzog Vratislav zum König von Böhmen gekrönt, wodurch er jetzt als Vratislav I. nummeriert wurde. Als er 1092 starb wurde Vratislav – nunmehr Böhmens erster König – auch in der von ihm gegründeten Kirche begraben. Die Grabstätte ging allerdings im Laufe der folgenden turbulenten Geschichte verloren, so dass man sich heute mit der im 20. Jahrhundert entstandenen bronzenen Gedenktafel zufrieden geben muss, die man im Bild rechts sehen kann.

Es gibt wenig sichtbare Spuren aus dieser kurzen Zeit, da die Kirche als Grablege des Herrschers und seiner Herrscherfamilie, den Přemysliden, diente. Im rechten Seitenschiff, gleich neben dem Haupteingang, befindet sich noch ein romanischer Sarkophag (Bild links), der früher als das Grab des Heiligen Longinus verehrt wurde, dessen Reliquien Kaiser Karl IV. im späten 14. Jahrhundert nach Prag gebracht hatte. Das kann kaum stimmen und es könnte daher sein, dass es sich um die letzte Ruhestätte es Familienmitglieds der Přemysliden handelt. Aber genaues weiß man leider nicht. Und: Schon unter Soběslav I.wurde 1135 wieder die Burg der Herrschaftssitz des Hauses. Immerhin hatte der gute Fürst 1129 die Kirche selbst noch einmal stattlich umbauen und renvieren lassen. Aber die Blüte des Vyšehrads war vorbei.1249 beschädigte ein Feuer die Kirche schwer, die darob unter König Wenzel I. nunmehr etwas modernisiert im frühgotischen Stil restauriert wurde. Aber die große Zeit des Gebäudes und des Vyšehrad als eigentliches Herz des Königreiches Böhmen schien vorbei zu sein.

Und dann kam das Goldene Zeitalter Prags unter Kaiser Karl IV., der zugleich böhmischer König war. Als Sprössling des Geschlechts der Luxembuger (seine Mutter Eliška war allerdings eine Přemyslidin) stellte er auch seine großen stadtplanerischen und architektonischen Umgestaltungen Prags in den Dienst eines politischen Programms, das die Legitimität des Königtums in Böhmen stärken sollte. Zwar dachte er nicht im Traum daran, wieder von der Burg auf den Vyšehrad zu ziehen, aber es gab den Ehrgeiz, ihn als Symbol für den Beginn des Königtums, das ja mit Vratislav begann, in möglichst großer Pracht wieder aufzuerstehen lassen. Die von Karl IV. erlassene Krönungsordnung sah vor, dass der zu Krönende die Nacht vor der Krönung hier im Gebet verbringen müsse. So eine vage Vorstellung, wie der nunmehr hochgotische Kirchenbau unter Karl IV. nun aussah, kann man von dem – allerdings aus dem 18. Jahrhundert stammenden und somit barocken – Wandgemälde am Ende des linken Schiffes erhalten (siehe Bild rechts). Es soll die Basilika in dem Zustand von 1420 zeigen.

Als Königliches Kollegiatskapitel, das direkt dem Papst und nicht dem Prager Bischof unterstand, hatte es eine große seelsorgerische Funktion und war ein wichtiger Faktor der kirchlichen Außenangelegenheit des Königreichs.1420 kam allerdings der Rückschlag. Die Hussitenkriege hatten begonnen, die hussitischen Truppen stürmten und plünderten den Vyšehrad, wobei die Basilika schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auch die Beziehungen zum Papst waren nicht mehr so recht herzlich. Die Kirche verfiel allmählich. 1576, unter der Herrschaft des katholischen Habsburgers Rudolf II. begann man damit, dass Gebäude rundum neuzugestalten. Ein Renaissancebau entstand, von dem heute quasi nichts mehr zu sehen ist. Denn auch er war nicht von Dauer.

Mit der dem Dreissigjährigen Krieg folgenden Gegenreformation war opulenter Barock angesagt. Daher wurde zwischen 1707 und 1729 von den Architekten Johann Blasius Santini-Aichl und Franz Maximilian Kaňka ein fast völlig neuer Bau in ebendiesem Stil errichtet. Die dreischiffige Grundstruktur der Vorgängerbauten wurde dabei beibehalten. Man verzichtete jedoch auf einen hohen Turm und insgesamt wirkte sie deshalb nicht sehr hoch. Auf alten Photograhien aus dem späten 19. Jahrhundert kann man sehen, dass sie (im Gegensatz zur heutigen Kirche) kaum als Landmarke erkennbar war. Aber das wollte man irgendwann dann doch ändern.

Dass es dazu kam, verdankt man vor allem Václav Štulc (über ihn berichteten wir bereits hier), seit 1870 Domprobst auf dem Vyšehrad, der 1870 – zum Teil auf eigene Kosten! – die Planungen für einen weitgehende Um- oder Neubau initiierte, der dann von 1885 bis 1887 nach den Plänen des bekannten Architekten Josef Mocker (den erwähnten wir u.a. hier, hier, hier und hier) durchgeführt wurde. Das Projekt wurde von Mikuláš Karlach, der 1871 Domherr und 1902 Probst wurde, weitergeführt, der die Gestaltung der imposanten Fassade (Bild rechts) in Auftrag gab, die von Mockers Architektenschüler František Mikš (wir erwähnten ihn hier) durchgeführt wurde. Und das alles war Neogotik, der Stil für den beide Architekten berühmt waren, vom Feinsten. Der Barockbau wurde fast völlig abgerissen, wobei die dreischiffige Grundstruktur beibehalten wurde. Es handelt sich um eine sog. Pseudobasilika, d.h. eine dreischiffige Hallenkirche mit erhöhtem Mittelschiff, das aber im Gegensatz zu einer gotischen Basilika keine Fenster im oberen Teil des Mittelschiffs hat (sog. Obergaden).

Und: Zu dem Neubau gehörten die zwei satte 58 Meter hohen Türme an der Frontfassade. Durch sie wurde die Kirche zu einer von allen Richtungen kilometerweit sichtbaren Landmarke. Aber warum Neogotik und warum dieses visuelee „Auftrumpfen“? Nun, Štulc und Karlach gehörten zu einer neuen Generation von Reformtheologen, die mit einem modernen tschechischen Nationalismus liebäugelten, der gerade in ganz Böhmen seinen Aufschwung nahm. Štulc war sogar 1863 für kurze Zeit von den österreichischen Behörden wegen nationalistischer Agitation ins Gefängnis gesteckt worden. Aus dieser Geisteshaltung heraus ist es verständlich, dass sie architektonisch gerne auf die Blütezeit der Kirche zu Beginn des böhmischen Königtums und seiner Unabhängigkeit zurückgreifen wollten. Der Barock stand für die Habsburgerzeit und Fremdherrschaft. Die Basilika sollte ein weithin sichtbares Symbol für böhmische (im Sinne von tschechisch verstanden) Größe sein. Dazu passt, das Štulc den Kirchhof in den heutigen großen Nationalfriedhof umwandeln ließ (darüber berichteten wir hier), wo große und bedeutende Tschechen ihre letzte Ruhe finden sollten.

Aber nicht nur die äußere Sichtbarkeit zählte. Auch innen sparte man nicht an Aufwand, um daraus eine Art Nationalkirche zu machen. Da sind die allgegenwärtigen Fresken des Prager Malers František Urban, der zusammen mit seiner Frau Marie Urbanová-Zahradnická in den Jahren 1901-1903 den größten Teil des Schiffs malerisch ausgestaltete. Urban war übrigens Schüler des weltberühmten Malers und Illustrators Alfons Mucha. Wir berichteten darüber bereits hier. Und Architekt Josef Mocker gestaltete den kunstvollen und reich vergoldeten Hauptaltar (Bild links) von 1884 bis 1889, in dessen Zentrum die beiden Statuen der für die Basilika namensgebenden Apostel Petrus und Paulus stehen. Die Schnitzarbeiten sind das Werk des Bildhauers Josef Hrubeš.

Ansonsten lohnt sich der Gang durch die Seitenschiffe, wo an Altären, Gemälde und Heiligenstatuen geradezu solch ein Überfluss herrscht, dass man sie an dieser Stelle gar nicht alle en detail abhandeln kann. Die hübsche Pietà (trauernde Maria mit dem Leichnam Jesu) im neobarocken Stil aus den 1880er Jahren, die wir rechts sehen, ist zum Beispiel das Werk des berühmten Südtiroler Holzschnitzers Ferdinand Stuflesser. Der Künstler, der Spezialist für Sakralkunst war und eine international erfolgreiche Großwerkstatt betrieb, schuf übrigens auch die berühmte Weihnachtskrippe der Kirche, worüber wir beim nächsten Weihnachtsfest (genauer: am 26, Dezember) noch gesondert berichten werden.

Von den Seitenaltären der auffälligste ist zweifellos der sehr farbenfrohe Altar der böhmischen Schutzheiligen (Oltář českých patronů), ein Werk des Bildhauers und Schnitzers Jan Kastner aus dem Jahre 1910, das schon stark vom Jugendstil beeinflusst ist. Hier versammeln sich unter dem Kreuz allerlei aus Böhmen stammende Heilige, allen voran der in der Mitte kniende Heilige Wenzel und seine neben ihm kniende Großmutter, die Heilige Ludmilla. Aber auch der Heilige Nepomuk, die beiden Slawenapostel Kyrill und Method, der Heilige Adalbert (in der Mitte stehend) und etliche andere kommen nicht zu kurz.

Womit man bei einem Hauptmerkmal der Innengestaltung sind, nämlich die auffällige Dominanz tschechisch/böhmischer Heiliger, die sich z.B. auch auf die bereits erwähnten Fresken bezieht. Diese Vorliebe, die der nationalpatriotischen Grundidee der Probste Štulc und Karlach entsprach, werden aber auch bisweil durch andere slawische Heilige ergänzt, was dem panslawistsichen Unterton des tschechischen Nationalismus entsprach. Rechts sieht man zum Beispiel das ikonische Bild des Großfürsten Wolodomyr von Ky­jiw (hier noch in der unpassenden russischen Schreibweise „Wladimir“), der im 10. Jahrhundert das Christentum in seinem Reich, dem Kyijwer Rus, verbreitet hatte. Es zeugt von dem slawischen Nationalismus der Zeit, dass irgendwie in Kauf genommen wurde, dass Wolodomyr in seinem Reich die Grundlagen für die Orthodoxe Kirche und nicht den Katholizismus gelegt hatte. Slawentümelei war damals halt wichtiger als manche Glaubensdetails.

Das mindert aber alles heute nicht die Glaubwürdigkeit von St. Peter und Paul als ein Zentrum katholischen Glaubens. Schon zu Ende des Kommunismus wurde die Kirche gründlich renoviert und archäologisch erforscht. Nach dem Ende des Kommunismus kam dann bald ihre große Stunde. Papst Johannes Paul II. erhöhte sie 2003 zur Basilica minor (Kleine Basilika), was als Honorierung der engen Bindung zum Papst und des Einflusses auf das Umland dienen sollte. In der Hierarchie von katholischen Kirchen kann man gar nicht höher aufsteigen, denn der durchaus existierende Titel Basilica maior ist qua Kirchengesetz exklusiv und unveränderlich nur vier Kirchen zustehend, die alle auf der italienischen Halbinsel liegen, darunter natürlich der Petersdom in Rom.

Und obwohl sie nicht wirklich aus den mythischen Zeiten des Mittelalters stammt, sondern erst 1903 fertiggestellt wurde, verleiht ihr vielleicht gerade der – für heutige Zeiten wohl etwas zu dick aufgetragene – Nationalhistorismus, den man sich damals halt erlaubte, einen besonderen Charme. Jedenfalls strömen die Touristen gerne hin zu dieser weit sichtbaren Kirche, von der aus man übrigens logischerweise auch eine tolle Aussicht auf Prag genießen kann. Und viel zu sehen gibt es hier sowieso. Und da sie oben auf dem Berg des Vyšehrad liegt, tut man auch etwas für seine Fitness, wenn man vom Tal der Moldau hier hinaufsteigt. (DD)

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