Echte und falsche Mythen auf dem Vyšehrad

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Ursprünglich hätten die vier Kolossalmonumente gar nicht auf dem Vyšehrad stehen sollen, sondern dienten als Ausschmückung der damals in Bau befindlichen Palacký-Brücke. Dort nahmen sie aber dem wachsenden Autoverkehr so viel Platz weg, dass man kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss, sie im Namen des stetigen Verkehrsflusses auf die alte Burganlage zu versetzen.

Gestaltet wurden sie ab 1889 bis 1897 von dem  Bildhauer Josef Václav Myslbek, einem Meister  des pompösen Historismus mit nationalem Einschlag, der unter anderem die Reiterstatue des Heiligen Wenzel auf dem Wenzelsplatz entworfen hatte. Es handelt sich sich um vier Statuengruppen mit je zwei zusammengehörigen Figuren aus der reichen mythischen Legendenwelt der frühen böhmischen/tschechischen Geschichte. Sie stehen IMG_0966jetzt auf der freien Parkanlage neben der Peter-und-Paul-Kirche auf dem Vyšehrad.

Es beginnt mit dem bekanntesten Mythos, dem von Libuše und Přemysl (siehe früheren Beitrag hier). So um das Jahr 900 war die aus einem Fürstenhause stammende und äußerst emanzipierte Libuše eigentlich reif, als Herrscherin die Führung über die alten Tschechen zu übernehmen. Die waren in Sachen Frauenrechte aber noch ein wenig rückständig und wollten nur von einem Mann regiert werden. Immerhin erlaubten sie Libuše, den neuen Herrscher selbst zu bestimmen. Der Mann, den sie zum Ehegatten erkor, sollte es werden, und sie erkor Přemysl. Die bis in das 14. Jahrhundert regierende Přemyslidendynastie war geboren. Zudem – und deshalb ist der Vyšehrad eigentlich auch der bessere Standort für das Monument als die Brücke unten im Tal – weissagte sie hier oben auf Vyšehrad, dass Prag eine Stadt mit Zukunft sein werde. Myslbeks Darstellung zeigt immerhin, wer hier die treibende Kraft war. Libuše steht selbstbewusst in Seherpose da, während ihr Mann brav dabei sitzt.

Nichts gegen Přemysl, aber man kann verstehen, dass die Frauen sich damals irgendwie zurückgesetzt fühlten und sauer waren. Nach Libušes Tod brach daher ein Krieg zwischen den Geschlechtern aus, der sogenannte Mädchenkrieg (früherer Beitrag hier). Die beiden Hauptfiguren dieses Drama finden sich auf einem anderen der Monumente: Šarka und Ctirad. Im Krieg sollen ja angeblich alle Mittel erlaubt sein – auch List und Heimtücke. Um den kampferprobtesten Helden der Männer, Ctirad, schachmatt zu setzen, fesselten die Frauen die hübsche Šarka nackt an einen Baum, um den Eindruck zu erwecken, sie sei das hilflose Opfer eines Überfalls sittenloser Strolche gewesen. Ctirad kam vorbei und wollte ihr ganz ritterlich helfen. Erst als er sie vom Baum abknotete (großes Bild oben), merkte er, dass er in einen Hinterhalt der Frauen geraten war, bei dem Šarka als Lockvogel diente. Aber da war es zu spät und bald darauf war er tot. Šarka geriet aber ins Sinnieren. Eigentlich war Ctirad ja wirklich nett gewesen und hatte ihr ja nur ganz edelmütig helfen wollen. Sie verliebte sich in ihn postum und geriet ob ihrer Hinterlist so in Verzweiflung, dass sie  sich von einem Felsen im heute so genannten Šarka-Tal in den Tod stürzte. Myslbek stellte hier die Szene dar, wie Ctirad sich gerade dem Baum nähert und demütig niederkniet, um Šarka loszubinden (großes Bild oben).

IMG_0965Die dritte Monumentalplastik stellt eine Legende dar, die eigentlich keine war – sondern eine bloße neuzeitliche Fälschung. Das war aber Myslbek noch nicht klar. Dabei ist die Geschichte schön. Ihrzufolge weigerte sich der Sänger Lumír nach dem Mädchenkrieg ein Triumphlied über die von den Männern überwältigten Frauen zu singen. Das war vermeintlich der versöhnliche Abschluss der Geschichte, den 1817 ein Archivar namens Václav Hanka in einer angeblich in einer Kirche gefundenen mittelalterlichen Chronik, der Königinhofer Handschrift, gefunden hatte. Die Handschrift befeuerte die Phantasie aller tschechischen Nationalisten, zeigte sie doch den edlen Charakter der alten Slawen auf, der sich so wohltuend von der Gewalttätigkeit der benachbarten Germanen absetzte. Ab den 1860er Jahren tobte eine Jahrzehnte andauernde Auseinandersetzung in der Gelehrtenwelt und Zeitungen darüber, ob diese Handschrift überhaupt echt sei. Die Zweifler wurden dabei lange Zeit heftigst als vaterlandslose Gesellen abgestempelt. Am Ende sollten sie jedoch Recht behalten. In aller Wahrscheinlichkeit war es Hanka selbst, der das Dokument gefälscht hatte. Lumír ist also keine echte Sagengestalt. Eigentlich schade … Myslbek hatte als guter tschechischer Patriot aber noch keine Zweifel an der Echtheit der IMG_0968Botschaft. Die Statue heißt Lumír und das Lied (Lumír a Píseň), wobei das Lied hier allegorisch als kleine Frauengestalt dargestellt ist.

Kommen zum Schluss noch zwei Heldengestalten, die eines Morgens aufwachten, um festzustellen, dass auch sie nur eine Erfindung Hankas waren. Dabei waren die Brüder Záboj and Slavoj wahre Kämpfernaturen. Die fochten tapfer für die Ur-Böhmen gegen das Heer des Gegners Luděk und drängten selbiges bis an die Alpen zurück, wo sie es dann besiegten. Deshalb halten sie auch den Siegerlorbeer in ihrer Hand. Auch diese Story ist nur eine phantasievolle Idee aus der Königinhofer Handschrift.

Ob echt oder falsch: Die Legenden haben eine große künstlerische Inspiration ausgeübt. Und die Sammlung von Mythen, die Myslbek hier geschaffen hat, hat schon so ihren bezwingenden Charm. Und mit dem Fälschen der historischen Urvergangenheit standen die Tschechen nicht alleine – man denke an James Macphersons Epen des schottischen Barden Ossian von 1760, die ihrerzeit ähnliche Begeisterung im Norden Britanniens auslösten bevor sie als Schwindel entlarvt wurden. Nicht jedes Land kann schon in grauer Vorzeit einen Homer oder ein Nibelungenlied hervorbringen. Da einmal ein wenig nachzuhelfen, ist eine verführerische Idee. Und damals adressierten sie halt eine Grundstimmung unter den Tschechen, mehr nationale Selbstbestimmung gegenüber dem Habsburgerreich zu erringen. (DD)

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