Interessanter Fremdkörper: Nová scéna

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Das ist sicher das Erste, das jeder denkt, wenn er es zum ersten Mal sieht: Ja, es gibt schon optische Dissonanzen, die das Auge zu beleidigen scheinen. Das Gebäude derIMG_9519 Nová scéna (Neue Szene) direkt neben dem plüschig-historistischen Nationaltheater aus dem 19. Jahrhundert (siehe Beitrag hier) und zahlreichen barocken Gebäuden in der direkten Umgebung nimmt sich zunächst wie ein störender Fremdkörper im Stadtbild aus. Zumindest als „auffällig“ muss man den Kontrast bezeichnen. Aber man kann sich mit dem Gebäude auch versöhnen, wenn man es näher kennenlernt – etwa wenn man die auffällige grüne Marmortreppe hinaufsteigt, die schwungvoll in die oberen Stockwerke führt, wo das Kulturleben auf der Bühne oder an der Bar stattfindet.

IMG_9525Doch zunächst einmal zurück zur Geschichte: Das Areal neben dem Nationaltheater gehörte zu den wenigen Teilen Prags, in dem es Kriegsschäden gab. Man wollte die Lücken füllen und zugleich den Theaterbereich erweitern und modernisieren. In den Jahren 1977 bis 1983 wurde dann die Neue Szene nach den Entwürfen von Karel Prager erbaut, der als avantgardistischer Funktionalist und „Visionär der sozialistischen Architektur“ zu den Stars der damaligen Architektenszene der Tschechoslowakei gehörte. Zusätzlich bezog man noch den Bildhauer Stanislav Libenský ein, IMG_9528der die Außengestaltung des vorderen (der Straße zugewandten) Teils des Komplexes so gestalten sollte, dass die gewünschte Beton-Stahl-Glass-Ästhetik gewahrt, aber der Lärmpegel (Straßenlärm) gering blieb. Zehntausende von mundgeblasenen Glasziegeln erreichten diesen Zweck. Wuchtig wurde das Gebäude dadurch und man nannte den Stil nicht umsonst „Brutalismus“ – aber es war eben auch originell. Denn das neue Theater sollte kein sozialistischer Einheitsbrei werden, sondern neue Maßstäbe setzen. Das gelang immerhin teilweise. Dafür wurde neben Prager und Libenský ab 1980 auch noch der international renommierte BühnenbildnerIMG_9523 Josef Svoboda einbezogen, der der das Innere des Theaters für neue und innovative künstlerische Formate ausgestalten sollte.

Die gab es dann auch: Kernstück des Theaters wurde die Laterna Magika, das erste konsequent als solches konzipierte Multimediatheater der Welt. Mit der künstlerischen Kombination von Schauspiel, Pantomine, Sound- und Lichtshoweffekten und Ballett hatte die Tschechoslowakei schon erstmals bei der Weltausstellung von Brüssel 1958 einen (für kommunistische Länder in dieser Hinsicht eher seltenen) Erfolg in Sachen innovativer moderner Kultur IMG_9521verbuchen können. Jetzt wurde das Konzept erstmals systematisch realisiert und das neue Gebäude lieferte die technischen Voraussetzungen dazu.

Mehr noch: Der geradezu ausufernd verwinkelte Theaterbau sollte ein regelrechter Kulturtreffpunkt werden. Auf der Studiobühne kann man heute hauptsächlich Theaterstücke, Ballette oder Opern moderner Autoren, Komponisten oder Regisseure sehen. Es gibt Möglichkeiten für Ausstellungen mit modernen Installationen. Im ersten Stock wurde IMG_9526eine große Cafeteria mit wohl ausgestatteter Bar und kleiner (aber feiner) Bibliothek eingerichtet, die damals wie heute auch außerhalb der Aufführungszeiten für jedermann offen ist. Hier gab (und gibt es noch) regelmäßige Dichterlesungen. Ein Künstlertreffpunkt tat sich auf. Was als sozialistisches Mustertheater geplant worden sein mag, entpuppte sich schon bald ein ein Hort der Freigeistigkeit, wo Oppositionelle wie Václav Havel ein- und ausgingen. Nicht umsonst ist der Innenhof des Komplexes nach ihm benannt.

IMG_9713Der Komplex ist heute ein integraler Teil des Nationaltheaters selbst, denn die einstmals auch formal eigenständige Laterna Magika wurde in den Gesamtbetrieb integriert. Trotzdem wirkt er aufgrund des Kontrastes zum alten Gebäude des Nationaltheaters (großes Bild oben) immer noch wie eine autonome Einrichtung mit eigenem Anspruch. Die Nová scéna ist irgendwie anders.

Denn noch immer geht es in der Nová scéna recht lebendig zu und innen strahlt das Gebäude auch immer noch ein wenig den Geist jenes Dissidententums aus, das hier hier im einstigen Mustergebäude des Sozialismus die Opposition gegen ebendiesen pflegte. Man ist angenehm überrascht. (DD)

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