Eine Kirche, der man ihre Geschichte ansieht

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Als man Mitte des 13. Jahrhunderts die Stadtmauer um die Altstadt zog, stand sie im Wege. So beschloss man kurzerhand, die zwischen 1178 und 1187 erbaute romanische (und deshalb so genannte) Kirche Sankt Martin in der Mauer in die Mauer einzugliedern. IMG_9261Dem Turm sieht man bis heute an, dass er eigentlich zu einer Wehranlage gehörte, obwohl es die Mauer schon lange nicht mehr gibt.

Das war der Beginn einer ereignisreichen Geschichte, die man diesem Bauwerk auch ansieht. Und diese Geschichte hat fast revolutionäre Züge. 1414 bekannte sich die Gemeinde zum Hussitentum und es wurde hier erstmals der Laienkelch ausgegeben, was schon ein Jahr später die katholische Kirche auf dem Konzil von Konstanz als Häresie verurteilte. Die Gemeinde ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken und wuchs. 1488 musste man zwecks Vergrößerung dem einschiffigen Bau gothische Seitenschiffe anbauen. IMG_9250Als die Reformation kam, schloss man sich ihr schon fast selbstverständlich an. Dann kam die schreckliche Niederlage bei der Schlacht am Weißen Berg von 1620 und die darauf umgehend folgende Rache der katholischen Seite, die St. Martin als Brutstätte der Reformation besonders brutal zu spüren bekam. Die Evangelische Gemeinde wurde hinausgeworfen und die Kirche katholisiert. Auch optisch wurde der Bau verändert, indem barocke Stilelemente eingebaut wurden. Besonders schön ist die in Teilen heute noch sichtbare frühbarocke bemalte Holzdecke in einem der Nebenschiffe (rechts).

Optisch wurde das Erscheinungsbild dadurch immer uneinheitlicher. Dazu trug auch IMG_9260bei, dass zuvor das Haus eines der evangelischen Gönner der Kirche direkt an die Kirchenwand gebaut worden war, damit dessen Familie durch einen eigenen Eingang über eine Empore trockenen Fußes ins Gebäude treten konnte. Dieses Gebäude fiel nun weg. Seither sieht man Emporen, die man nur über eine Leiter erreichen kann, und Türen, die ins Nichts führen (Beispiel links).

Als Kaiser Joseph der II. sie 1781 besuchte, fand er die Kirche nur noch erbärmlich. Aber auch sonst wäre sie seinem Säkularisierungsedikt von 1784 zum Opfer gefallen. Nun durchlebte die Kirche den Tiefpunkt ihrer Karriere – als Lagerhalle und in Teilen sogar als Kneipe. Erst IMG_92531904 erbarmte sich die Stadt Prag ihrer und kaufte das historisch wertvolle Gebäude. Durch den renommierten Architekten Kamil Hilbert (siehe hier) ließ man sie mit viel Neogothik wieder herrichten. Mit diesem Rückgriff auf die Zeit der Hussiten und ihrer reformatorischen Vorreiterrolle wollte man dem neu erwachenden Nationalgefühl der Tschechen im Habsburgerreich Ausdruck verleihen. Besonders der große Kelch hinter dem Altar (rechts)  sollte das Jahr 1414 und den ersten Laienkelch wieder in Erinnerung rufen.

Mit dem Ende des Habsburgerreiches und mit der Gründung der Ersten Republik durfte St. Martin in der Mauer IMG_9262endlich wieder an ihre alte reformatorische Tradition anknüpfen. Sie wurde an die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder verpachtet. Seit 1994 ist sie nunmehr die Hauskirche der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde in Prag, die zu den Böhmischen Brüdern gehört.

Mit ihrem Stilmix, ihren sinnlosen Türen und unerreichbaren Emporen lässt die Kirche ästhetisch ganz gewiss den „einheitlichen Guss“ vermissen. Alles sieht irgendwie arg zusammengestückelt aus. Aber gerade das macht wohl den ganz besonderen Reiz von St. Martin in der Mauer aus. Nirgendwo sonst in Prags Kirchen kann man einem Gebäude so eindrucksvoll ansehen, wie verschlungen die dunklen Pfade der Geschichte sein können. (DD)

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