Hilferuf aus Halle 19

Normalerweise freut man sich, wenn einem verzweifelten Hilferuf die Hilfe schnell folgt. Als am 30. Juli 1968 – heute vor 52 Jahren – in der Moskauer Prawda der „Hilferuf“ von 99 Arbeitern der Halle 19 der Maschinen- und Automobilbaufirma Praga im Stadtteil Vysočany (Prag 9) erschien, wünschten sich wohl nur wenige Bürger der Tschechoslowakei die „Hilfe“, die dann keine drei Wochen später tatsächlich kam. Am 20. August marschierten Truppen des Warschauer Paktes in das Land ein, um den Prager Frühling und die damit verbundene Liberalisierungspolitik im Lande zu beenden. Mit der gerade errungenen Freiheit war es Dank dieser „brüderlichen Hilfe“ erst einmal für viele Jahre vorbei.

Die neuen Machthaber feierten die 99 Arbeiter der Halle 19 (Hala č. 19) als Helden. Eine große Plakette zu ihren Ehren wurde am Firmentor angebracht – die allerdings 1989 zusammen mit dem Kommunismus verständlicherweise wieder verschwand. Den Brief umgeben viele Mythen. Die Initiatoren hatten ihn wohl gar nicht an die Prawda nach Moskau, sondern an das Zentralkommittee tschechoslowakischen Kommunistischen Partei schicken wollen, um ihre Ablehnung jedweder Aufweichung der bisherigen streng sowjetkommunistischen Linie auszudrücken. Insbesondere äußerten sie ihre Besorgnis, darüber dass die Reformer darüber diskutierten, ob man in der Tschechoslowakei noch sowjetische Truppen und den Warschauer Pakt brauche.

Aber der Brief war genau das, was man in Moskau hören wollte: Die Arbeiterklasse schien weiterhin vom großen Bruder in Moskau vor jeglicher bürgerlichen Tendenz beschützt werden wollen. Das war eindeutig Unsinn. Die 99 repräsentierten schon rein numerisch nicht einmal ansatzweise die 4500 Arbeiter der Firma, geschweige denn, die gesamte Arbeiterklasse. Meist waren es kleinere Kader der Partei. Aber in den gleichgeschalteten Sowjetmedien wurde es als der langersehnte Ruf des Volkes verbreitet, dass eine militärische Intervention von der arbeitenden Klasse in der Tschechoslowakei sehnlichst herbeigewünscht wurde. Der Vorwand war da, die Tat folgte.

Die Halle 19 und ihr Umfeld sehen heute recht verfallen aus. Die Praga-Werke wurden privatisiert und 2006 an eine britische Firma verkauft. Sie schrumpften sich erst einmal halbwegs gesund. Die Autoproduktion wurde vorläufig eingestellt, man fokussierte sich auf die Zulieferung von Flugzeugteilen. Immer mehr Hallen des riesigen Komplexes – darunter eben auch Halle 19 – standen leer und verfielen langsam. Wenige Menschen, die an die Zeit der Repression nach der Niederschlagung des Prager Frühlings zurückdenken, werden darüber allzu sehr trauern. Und die 99 Helden von damals stehen heute eher als Verräter da.

Trotzdem wurde Halle 19 im Jahre 2005 unter Denkmalschutz gestellt, denn das Gebäude hat neben dem zeithistorischen auch einen architektonischen Wert. Es wurde 1942 von den Architekten Franz Anton Dischinger und Ulrich Finsterwalder für die Flugzeugfirma Junkers erbaut. Beide waren die Pioniere der Spannbetonweise, die neue Formen von Tonnengewölben und Kuppelschalen ermöglichten und für die leichte Kombination von Glas, Stahl und Beton berühmt wurden. Das, was man bei Halle 19 als Oberlichtkonstruktion sieht (großes Bild oben), ist heute fast schon gewöhnlicher Standard, damals bedeutete es eine Innovation ersten Ranges. Dass das Gebäude so der deutschen Kriegswirtschaft diente, macht sein historisches Erbe nicht leichter – vor allem wenn man dann das des Briefes der 99 Arbeiter von 1968 dazurechnet. Aber es ist eben auch ein Denkmal der Industriearchitektur und als solches durchaus erhaltenswert. Öffentlich zugänglich ist das Innere zur Zeit nicht. Ab und zu finden dort Dreharbeiten für Filme statt. Eine Infotafel an dem am Gebäude vorbei führenden Wanderweg macht auf die am Ende doch zumindest spannende Geschichte der Halle 19 aufmerksam. (DD)

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