Von der Pestkirche zum Kulturzentrum

Als sie hier erbaut wurde, stand sie weitab von Prags Innenstadt. Dort, wo sich heute der dicht bewohnte Stadtteil Žižkov befindet, gab es weites offenes Land mit nur wenigen Dörfern. Und es gab einen Grund, sie fernab vom Treiben der Stadt halten, denn die Kirche der Heiligkreuzerhöhung (kostel Povýšení sv. Kříže) war die Kapelle eines Pestfriedhofs.

Heute steht sie inmitten von großen Wohnblöcken in der Čajkovského 2422/12 auf einem kleinen, etwas eingepferchten Stück Grünfläche – fast so etwas wie eine Ruheoase in der Großstadt. Als sie auf Betreiben des 1716 in den Adelsstand erhobenen Bürgermeisters der Prager Neustadt, Johann Franz Krusius von Krausenberg, in den Jahren 1717 bis 1719 durch einen heute nicht mehr bekannten Architekten im Stil des Hochbarocks erbaut wurde, war gerade die große Pestseuche von 1713 bis 1716, die rund 20.000 Bewohnern Prag das Leben kostete (zur Erinnerung: Die Gesamtbevölkerung der Stadt betrug Ende des 18. Jahrhunderts rund 75.000), vorbeigegangen – wir berichteten u.a. hier. Die Pesttoten sollten wenigstens in einem halbwegs würdigen Umfeld ihr Massengrab auf einem Friedhof finden, denn die kleinen Kirchhöfe im Stadtgebiet hatten gar nicht das Fassungsvermögen.

Das war nicht das letzte Mal, dass Schreckensereignisse hier Massenbegräbnisse notwendig machten. Im Laufe der Belagerung und Besetzung Prags während des Österreichischen Erbfolgekriegs in den Jahren 1741 und 1742 wurden hier noch einmal 6000 bis 7000 gefallene französische Soldaten in Schachtgräbern beerdigt. Bei Bauarbeiten in der Umgebung der Kirche im Jahre 1957 fand man noch unzählige Skelettreste auf dem Gelände. Verwaltet wurde die Kirche in ihrer Zeit als Pestkirche von der Pfarre der Kirche des Hl. Heinrich und der Hl. Kunigunde (Kostel sv. Jindřicha a sv. Kunhuty) in der Neustadt (wir berichteten über sie hier).

Nach dem Krieg von 1742 gab es wenigstens keine Massenbegräbnisse mehr. Der Angriff der Preußen auf Prag im Siebenjährigen Krieg im Jahre 1757 richtete nur kleinere Schäden an. Inzwischen wuchs Žižkov immer mehr und man benötigte eine eigene Pfarrkirche. 1784 wurde die Begräbniskapelle zur eigenständigen Gemeindekirche umgewandelt. Der Friedhof wurde fortan nicht mehr für Begräbnisse genutzt, nicht zuletzt, weil Kaiser Joseph II. in den frühen 1780ern dekretiert hatte, dass die städtischen Kirchhöfe stillgelegt werden sollten – ein Beitrag zur städtischen Hygiene.

Bis 1842 diente die Kirche nun als Gemeindekirche, dann wurde die Gemeinde umstrukturiert und ihre Pfarrkirche zur nahe gelegenen St. Rochus Kirche (wir berichteten darüber hier) verlegt, die übrigens ursprünglich auch als Pestseuchen-Kapelle inmitten eines Pest-Friedhofs entstanden war (nach der Pest von 1680). Die Kirche der Heiligkreuzerhöhung stand nun leer und wurde irgendwann in ein Lagergebäude umgewandelt. Das Interieur wurde in andere Kirchen geschafft, die Stuckausschmückungen verschwanden im Laufe der zweckentfremdeten Nutzung. So ist heute nur noch das Äußere als im originalen Barockstil erkennbar.

Ab 1887 gab es erste Initiativen, das Gebäude zu sanieren, die aber an Geldmangel scheiterten. Erst 1961 wurden durch die Stadtverwaltung konkrete Aufträge für eine Renovierung und Neugestaltung an die Architekten Jaroslav Koreček und Ivo Bílý vergeben. Mit der Realisierung der Pläne begann man dann 1977. Allerdings sollte das Gebäude nicht mehr kirchlichen Zwecken dienen, sondern zu einem Kulturzentrum umgebaut werden. 1984 war man damit fertig und nun diente das Kirchengebäude als Konzertraum oder Saal für wechselnde Ausstellungen. Zudem hatte man einen neuen funktionalistischen Anbau mit kulturell nutzbaren Räumen und einem kleinen Café angebaut. Atrium heißt das Kulturzentrum nun, das von einem gemeinnützigen Verein namens Za Troku (Für Drei) engagiert betreut wird, der von der Stadtregierung Prag 3 ins Lben gerufen und größtenteils finanziert wird. Als gepflegte Kulturstätte wird sie von den Bewohnern der Umgebung (und darüber hinaus) gerne angenommen. Auf dem Dach des Anbaus kann man übrigens eine Kopie eines der skurrilen Babies (miminka) des exzentrischen Bildhauers David Černý (wir berichteten über ihn unter anderem hierhier, und hier) bewundern, die seit dem Jahr 2000 den nahen Fernsehturm Žižkov (Žižkovská televizní věž) schmücken und zu den Wahrzeichen des Stadtteils gehören. (DD)

Wo die Frau des Vratislav eingesperrt wurde

Eine barocke Kirche, die auf einer frühmittelalterlichen Wallburganlage steht. Man ahnt sofort, dass das ein geschichtsträchtiger Ort sein muss. Und so ist es auch. Was wir hier sehen, ist die Wallburg hoch über dem kleinen Ort Lštění an dem romantischen Flusslauf der Sázava, einem Nebenfluss der Moldau, aus der die schöne Kirche des Heiligen Klemens (Kostel svatého Klementa) emporragt. Man erkennt deutlich, wie der alte Erdwall, der dereinst wohl mit Palisaden verstärkt war, vor der Kirche entlangführt.

Die bloße Höhe, auf der sich die Anlage befindet, macht die Kirche zu einem Wahrzeichen für die ganze Umgebung. Vom Ufer der Sázava, die hier (rund 25 Kilometer südöstlich von Prag gelegen und mit der Regionalbahn gut erreichbar) zu wunderschönen und romatischen Wochenend- und Wanderausflügen einlädt, sieht sieht außerordentlich iposant aus.Man muss auf ein ganzes Stück den steilen Bergzug über der Ortschaft und dem Fluss hinaussteigen, um hier hochzukommen. Mehr als 100 Meter Höhenunterschied sind zu bewältigen. Klar: Die spitze dreieckige Felszunge, auf der die Burg auf einer Fläche von 4,3 Hektar steht, ist so leicht gegen Angreifer zu verteidigen.

In der Zeit ihrer Blüte war die alte Wallanlage durchaus bedeutsam. Sie wird zum Beispiel in der Geschichtschronik des berühmten böhmischen Chronisten Cosmas von Prag aus dem frühen 12. Jahrhundert als der Sitz des Burgkastellans des in Böhmen herrschenden Geschlechts der Přemysliden aufgeführt. Die hatten die Anlage wohl schon vorher aufgebaut. Vermutlich entstand sie im späten 9. oder sehr frühen 10. Jahrhundert unter Herzog Spytihněv I. Unter ihm wurde der böhmische Staat ausgebaut, was unter anderem auch die Anlage vieler Burgen zur Folge hatte.

Richtig in die Geschichte trat die Burg 1055 ein, als Herzog Spytihněv II. die Nachfolge seines Vaters als böhmischer Herzog antrat. Sein jüngerer Bruder Vratislav begehrte gegen ihn auf, wurde aber geschlagen und floh panisch nach Ungarn. Seine schwangere Frau (bei Cosmas „Maria“ genannt, was aber garantiert nicht stimmt, denn wir wissen nicht, wie sie wirklich hieß) musste er in der Eile zurücklassen. Spytihněv II. ließ sie darob hier in der Burg von Lštění einkerkern. Der Kastellan soll sie brutal und sittenlos behandelt haben. Als schließlich Bischof Severus von Prag ihre Freilassung erreichte, starb sie auf dem Weg zum ungarischen Exil ihres Mannes an den Folgen der Misshandlungen.

Ihr Witwer wurde erst 1061 nach dem Tod des Bruders als Vratislav II. böhmischer Herzog. 1085 toppte er das noch, als er vom deutschen Kaiser Heinrich IV. zum ersten böhmischen König (dann als Vratislav I. nummeriert) erhoben wurde, weil er diesem in seiner Auseinandersetzung mit dem Papst geholfen hatte. Zu dieser Zeit dürfte bereits am Rande der Siedlungsfläche der Burg eine Kirche gestanden haben, die im romanischen Stil gebaut wurde. Davon ist wenig zu sehen, denn heute sieht man hier unverkennbar eine Barockkirche.

1974 fand man immerhin die Reste eines gotischen Türeingangs aus dem 14. Jahrhunderts, der heute sorgfältig restauriert freigelegt sichtbar ist. In der gotisch-mittelalterlichen Zeit dürfte die umliegende Burg, auf deren Wall sie steht, als solche nicht mehr genutzt worden sein. Ab Anfang des 13. Jahrhundert findet sie in keiner Urkunde oder Chronik Erwähnung. Erdwälle waren wohl in eienr Zeit, als sich steinbewallte Burgen durchsetzten, militärisch obsolet geworden. Sie verfiel allmählich. Nur die Erdwälle kann man erkennen, besonders vor der Kirche, wo der Wall natürlich sorgfältig gepflegt wird. Von den Gebäuden innerhalb der Wälle ist kaum etwas erhalten, da sie wohl nur aus Holz gebaut waren.

Die heutige Barockkirche wurde 1703 auf den früheren mittelalterlichen Fundamenten erbaut. Es handelt sich um eine typische Klein- oder Dorfkirche im Barockstil – einschiffig, mit halbrunder Apsis und einem Turm, dessen zwiebelförmiger Dachaufsatz mit Schindeln ausgedeckt ist. Sie ist schon ein recht stattlicher Bau, wenn man sie ins Verhältnis zu dem kleinen Ort unten setzt. Aber sie hatte halt einen nicht nur reichen, sondern auch großzügigen Spender, den in der Nähe residierenden Grafen Jan Josef von Vrtba, der als Mäzen weithin bekannt war.

Von der originalen barocken Inneneinrichtung ist wenig, aber immerhin doch etwas erhalten geblieben. Man sieht einiges davon im Bild rechts, vor allem die zentral hinter dem Altar stehende barocke Statue des namengebende Heiligen Klemens, die kräftig in Gold gefasst ist. Daneben sieht man eine kleine hölzerne Kanzel – ebenfalls im Barockstil. Zwei barocke Bilder mit Heiligenmotiven runden das Ganze ab. Insgesamt ist das Innere eher zurückhaltend gestaltet, so wie es sich heute darbietet.

Die Kirche wird heute von der katholischen Gemeinde in Lštění vor allem auch als Begräbniskapelle genutzt, denn sie ist von einem schönen kleinen Friedhof umgeben. Der ist auch geschichtsträchtiger Boden, wenngleich eher neuzeitlicher Natur. An der äußeren, südlichen Wand ist nämlich die recht stattliche Grabstätte von Eduard Grégr gelegen. Grégr war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der bedeutenden tschechischen Politiker, Redner und Publizisten. Als Abgeordneter der Partei der Jungtschechen (Mladočeši), auch Freisinnige Nationalpartei (Národní strana svobodomyslná) vertat er nationalliberale Positonen gegen die Habsburgerherrschaft.. Sein Wirkungsgebiet war eiegntlich Prag, aber gegen sein Lebensende zog er nach Lštění, um die Ruhe zu genießen. Er starb 1907. Sein Grab besteht aus einem massiven Naturstein, auf dem sich eine Bronzeplakette mit Portrait befindet.

Kein Zweifel: Dieser Ort wird vom Atemhauch der Geschichte umweht. Von der armen gefangenen Frau des Vratislav bis zur Morgenröte der tschechoslowakischen Unabhängigkeit, die Eduard Grégr anzubahnen half -die alte Wallburg mit ihrer hübschen Kirche hoch über dem kleinen Ort Lštění haben viel gesehen und viel miterlebt. Darüber kann man nachdenken, wenn man von hier oben auf die schöne Landschaft an der Sázava hinunterblickt. (DD)

Der Fälscher im Prunkgrab

Als der Schwindel richtig aufflog, war es zu spät. Da lag er bereits in einem besonders schmuck- und ehrenvollen Grab auf dem Nationalfriedhof hoch oben über der Stadt auf dem Vyšehrad. Und als er dort 1861 beerdigt wurde, schrieb die tschechische patriotische Zeitung Národní Listy, seine „Beerdigung war in der Tat und im wahrsten Sinne des Wortes eine nationale Feier, großartig und beindruckend.“

Ja, der Mann hatte tatsächlich den Nationalstolz der Tschechen im Habsburgerreich angefacht. Im Jahr 1817 trat Václav Hanka mit der sensationellen Nachricht an die Öffentlichkeit, er habe im Turm der Kirche Johannes des Täufers (Kostel svatého Jana Křtitele) in Dvůr Králové nad Labem (dt.: Königinhof) eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert gefunden. Es handle sich um das älteste Stück Literatur in tschechischer Sprache und sei das Fragment eines großen Epos, dem zusätzlich einige Gedichte beigefügt worden waren.

Das war zu schön, um wahr zu sein. Griechenland hatte seinen Homer; die Engländer die Artussage und die Deutschen ihr Nibelungenlied. Jetzt hatten auch die Tschechen ein großes Epos aus früher Zeit: Die Königinhofer Handschrift (Rukopis královédvorský)! Man hätte gewarnt sein können. Schon einmal, im Jahre 1760, hatte ein Schriftsteller namens James Macpherson die literarischen Minderwertigkeitskomplexe der Schotten ausgenutzt, um ihnen seine „schottische“ Epenfälschung Ossian anzudrehen – ein grober Betrug, der einige Jahre später entlarvt wurde. Aber im Gegensatz zu Macpherson, der sich einfach recht plump weigerte, die (realiter nicht existierenden) Originalmanuskripte Experten zur Überprüfung vorzulegen, lag den Tschechen hier etwas vor, das wirklich wie eine echte mittelalterliche Handschrift aussah. 1818 legte Hanka noch einmal nach und präsentierte noch eine Handschrift ähnlicher Machart, die Grünberger Handschrift (rukopis zelenohorský).

Die sah auch echt aus. Und warum sollte man Hanka nicht glauben? Der war einer der renommiertesten Erforscher der alttschechischen Sprache überhaupt und galt als der ausgewiesene Kenner mittelalterlicher Dokumente schlechthin. Er war Schüler des legendären Josef Dobrovský, der die erste tschechische Grammatik verfasst hatte (wir berichteten hier) und später wurde er Leiter der Literaturabteilung des Nationalmuseums. Dazu kam noch viel später eine Professur an der Karlsuniversität. An seinem philologischen Wissen konnte zu Recht niemand zweifeln. Folglich gerieten die Tschechen ganz und gar aus dem Häuschen als sie von seiner Entdeckung eines urtschechischen Nationalepos erfuhren. Die Begeisterung schwappte auch über die Grenzen Böhmens. Goethe veröffentlichte schon bald eine deutsche Nachempfindung eines der nicht-epischen Gedichte (Das Sträußchen) aus der Handschrift. Sie war wiederum inspiriert von der 1819 erschienenen deutschen Übersetzung des Werkes, die ein Werk von Hankas Mitarbeiter (und möglicherweise Mitfälschers) Václav Alois Svoboda war. Romantiker aus allen Ländern schwärmten von der Urwüchsigkeit und Authenzität der mittelalterlichen Lyrik, darunter Jacob Grimm und François-René de Chateaubriand.

Und tatsächlich hatte die Handschrift auch das Zeug zum Historienbestseller. Im Mittelpunkt stehen die Schlachten, die die beiden vorhistorischen alttschechischen Kriegerfürsten Záboj und Slavoj siegreich gegen den bösen Eindringling Luděk bestehen, der wohl in Wirklichkeit ein Ludwig und somit Deutscher war. Das bestätigte das Geschichtsbild, das tschechische Patrioten, die unter der Habsburgerdominanz litten, gerne hörten. Die unweit von Hankas Grab befindlichen Monumentalstatuen, die der Bildhauer Josef Václav Myslbek zwischen 1889 und 1897 errichtete (Bild oberhalb rechts), zeugen von der Popularität des Mythos der beiden Ur-Helden (wir berichteten hier).

Der als „Vater der Nation“ geltende Nationalhistoriker František Palacký verwendete die Handschrift und ihre „Überlieferung“ bei seiner 1848 erschienenen „Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren“ als Quelle. Sie unterstrich dabei das patriotische Generalthema, dass die böhmische Geschichte primär ein ewiger Kampf zwischen gewalttätigen Germanen/Deutschen und friedvollen, aber tapferen Slawen gewesen war. Diese Botschaft fand sich nicht nur in den Kämpfern Záboj und Slavoj personifiziert, sondern vor allem auch bei dem feinsinnigen aber todesmutigen Sänger Lumír, „der mit Wort und Sange rührt den Wyšehrad und alle Lande.“ Er wurde zur Kulturikone, nach der 1851 eine bedeutende Kulturzeitschrift benannt wurde, und der deshalb auch nicht bei dem opulenten Fassadenschmuck des Nationaltheaters (1881) fehlen durfte, wo er poetisch die Leier spielt und mutig trotzend in die Ferne schaut (Bild oberhalb).

Erste Zweifel an der Echtheit äußerte erstmals, aber ganz vorsichtig der damals sehr bekannte Slawist Jernej Kopitar im Jahr 1824. Da die meisten tschechischen Wissenschaftler aber ungebrochen an die Echtheit glaubten und der Zweifel nur verhalten war, ging das fast unbemerkt unter. Auch Hankas Lehrer Dobrovský äußerte verhalten Zweifel. Bei so einem patriotischen Überschwang bei der Rezeption des neuen „Nationalepos“ war jedoch absehbar, dass die Äußerung von Zweifeln an der Echtheit eher eine riskante Sache werden könnte, weshalb der erste Zweifler, der 1858 ganz eindeutig behauptete, das Ganze sei eine Fälschung Hankas, vorsorglich anomym blieb. Das war klug, wie der Sturm der Empörung zeigte, der nun aufbrauste. Aber die Debatte war da! Und sie ging nicht wieder weg. 1859 veröffentlichte der Wiener Historiker Max Büdinger einen wissenschaftlich fundierten Artikel, den Hankas Unterstützer nicht mehr so einfach wegschieben konnten. Büdinger legte 1861 mit seinem Buch „Die Königinhofer Handschrift und ihre neusten Vertheidiger“ noch einmal ausführlich nach. Unter normalen Bedingungen hätte das die Sache erledigt. Aber hier ging es nicht nur um philologische Kleinigkeiten, sondern um vaterländische Gefühle.

1861 starb auch Hanka und sein Riesenbegräbnis war eine patriotische Demonstration, wie ja Narodný Listek auch korrekt berichtete. Sie waren von recht wenig solide fundierten Gerüchten begleitet, die fiesen Fälschungsvorwürfe hätten ihn in den Tod getrieben. Und immer noch standen große Teile des (tschechischen) wissenschaftlichen und literarischen Establishments auch noch posthum auf seiner Seite – allen voran Palacký, an dessen Autorität als Nationalhistoriker man damals kaum vorbei kam.

Als man 1885 mit dem Bau des großen Nationalmuseums (Národní Muzeum) begann, über das wir hier berichteten, wurden über den Fenstern des zweiten Stocks Stucktafeln angebracht mit den Namen unzähliger großer Wissenschaftler und Intellektueller Böhmens – sozusagen eine Zurschaustellung von akademischem Patriotismus. Und selbstredend (und Büdingers Forschungen zum Trotz) fehlte Hankas Namen nicht. Noch heute befindet er sich hier zwischen dem slowakischen Slawisten Pavel Jozef Šafárik und dem Physiker Franz Adam Petřina. Dieses trotzige Aufbäumen konnte die zweite Welle der Debatte in den späten1880er Jahren aber nicht mehr verhindern. An ihr beteiligte sich auch der spätere erste Präsident der Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, der gewiss nicht im Verdacht stand unpatriotisch zu sein. In einem Artikel in der Zeitschrift Athenaeum zeigte er 1889 auf, dass es sich nur um eine Fälschung handeln könne – in aller Wahrscheinlichkeit das Werk Hankas selbst. Damals wohnte Masaryk mit seiner Familie zur Miete in der Villa des Schriftstellers Václav Vlček, der ihn aus patriotischer Entrüstung aus der Wohnung warf (wir berichteten hier). Das nutzte in der Sache nichts. Und Masaryk betonte weiter, dass die modernen Tschechen für ihren Nationalstolz keine erfundenen Mythen bräuchten. Inzwischen haben moderne Materialforschungen in den 1990er Jahren, die man zu Hankas Zeiten noch nicht zur Verfügung hatte, die für damalige Verhältnisse sehr gut gemachte Fälschung nachgewiesen.

Es gibt immer noch Verteidiger Hankas, die behaupten, die Diskussion sei von Feinden der Nation (schließlich leugneten auch die Kommunisten die Echtheit der Handschrift) gesteuert. Oder einige die meinen, er sei von seinem Mitarbeiter Svoboda reingelegt worden, der der wahre Fälscher gewesen sei. Nun ja, auf jeden Fall liegt Hanka an prominenter Stelle auf dem Nationalfriedhof. Das riesige das obeliskenähnliche Prunkgrab finanzierte 1863 (zwei Jahre nach dem Ableben) die renommierte Svatobor Gesellschaft (Spolek Svatobor), eine Vereinigung, die arme Schriftsteller unterstützt und vor allem die Nationalgrabstätte Slavín (drittes Bild von unten) betreut. „Nationen gehen nicht unter, wenn die Sprache lebt!“, steht auf der Inschrift, die damit vorsichtshalber auf die unbestrittenen Verdienste Hankas für die slawische Philologie hinweist und nicht auf die Königinhofer Handschrift. Die Unterstützung des Grabdenkmals durch die Svatobor Gesellschaft erklärt übrigens auch das seltsame Symbol auf der Spitze des Grabes – drei Hände, die einen Ring festhalten. Das ist nämlich das Logo des Vereins, der sich hiermit selbst verewigt hat. (DD)

Jüdischer Friedhof, seit 1990 geschlossen

Als in der zweiten Hälfte im Zuge der Industrialisierung die Gesamtbevölkerung von Smíchov dramatisch anwuchs, wuchs auf die jüdische Gemeinde dort. Und die brauchte einen eigenen Friedhof, der auch ihren religiösen Vorschriften entsprach. Zwar gab es bereits den sogenannten Alten Jüdischen Friedhof in Smíchov (Starý židovský hřbitov na Smíchově; unser Bericht hier) aus dem Jahre 1788, aber es war absehbar, dass der allmählich zu klein wurde.

Also wurde im Jahre 1903 der Neue Jüdische Friedhof in Smíchov (Starý židovský hřbitov na Smíchově) gegründet. Was die Frage des Ortes für den neuen Friedhof anging, so war die leicht zu beantworten. Denn es gab unterhalb im Tal beim Ortsteil Malvazinky bereits Land, das bereits zur Nutzung als Friedhof ausgewiesen war. 1875 war hier nämlich der große Friedhof Malvazinky (heute bekannt als der Begräbnisort für Karel Gott) für die nicht-jüdischen Bürger Smíchovs, das damals übrigens noch nicht zu Prag gehörte (das kam erst 1922). Bei den verschiedenen neuen Friedhöfen wurden damals meist großzügige Vergrößerungskapazitäen vorsorglich eingeplant. Und das recht liberale Smíchov stellte das entsprechende Land gerne der örtlichen Beerdigungsbruderschaft (Hebräisch: Chewra Kadischa) der jüdischen Gemeinde zur Verfügung. Obmann der Bruderschaft und Tempel-Vorsteher der damals recht großen Israelitischen Cultusgemeinde in Smíchov war damals der Unternehmer Heinrich Taussig, der 1908 verstarb und somit zu den früh dort Begrabenen gehörte. Nur eine kleine Mauer (Bild oberhalb links) trennt den allgemeinen vom jüdischen Friedhof.

Der Alte Jüdische Friedhof wurde stillgelegt und bis in die 1930er Jahre allenfalls sporadisch für Beerdigungen geöffnet. Der Neue Jüdische Friedhof von Smíchov war schließlich groß genug angelegt. VIele örtlich Prominente fanden hier ihre letzte Ruhestätte, nicht nur Heinrich Taussig und viele seiner Familienangehörigen, sondern zum Beispiel auch die Angehörigen der Familie großen Industriellendynastie Portheim (wir erwähnten sie u.a. hier und hier). Zu erwähnen ist auch der Jurist, Übersetzer und sozial engagierteDichter Friedrich Adler, der u.a. die deutsche Übersetzung von Bedřich Smetanas berühmter Oper Die Verkaufte Braut (Prodaná nevěsta) anfertigte, die wahrscheinlich heute weltweit häufiger gespielt wird als die tschechische Originalfassung.

6025 Quadratmeter rund 800 Gräber umfasst der Friedhof heute. Allerdings war er ursprünglich größer ausgelegt. Durch den Holocaust der Nazis waren fast alle jüdischen Gemeinden geschrumpft. Der zentrale, 1890 gegründete Neue Jüdische Friedhof (Nový židovský hřbitov), die jüdische Sektion des großen Olšany-Friedhof in Žižkov, wurde nun immer mehr Hauptbegräbnisstätte für die verschiedenen jüdischen Gemeinden in Prag. Weil das Land für einen Zuwachs an Grabstätten absehbar nicht mehr genutzt werden würde, wurde ein unbenutzter Teil im Norden des Friedhof als Bauland freigegeben.

In den Jahren 1982 bis 1985 wurde ein Teil für den Bau eines, architektonisch recht brutalistisch gestalteten Gotteshauses (Bild links) der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten verwendet. Im Jahre 1990 wurde der Friedhof dann endgültigstillgelegt, das heißt, nicht mehr für neue Begräbnisse genutzt. Der Friedhof wurde darob auch für Besucher geschlossen, was verständlich wegen der Gefahr von Grabschändungen, aber auch traurig ist, weil der Friedhof über die Jahre einen schönen alten Baumbestand entwickelt hat, der zum meditativen Spazieren durch die Anlage eigentlich einlädt. Hinzu kommen viele schöne Grabsteine, die viel über die Grabkultur der Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sagen. Die Adventisten waren aber immerhin so nett, dass sie vor der Mauer am Eingang eine erhöhte Rampe installierten, die als eine Aussichtsplattform dient und den Blick über fast das ganze Areal erlaubt. (DD)

Die Nähe zu Gott finden

An diesem Orte kann man die Nähe zu Gott finden. Nicht den, von dem Nietzsche behauptete, er sei tot, den man aber nirgendwo begraben findet. Nein, die Rede ist von Tschechiens bekanntestem Gott: Karel Gott. Und der liegt nachweislich auf dem Malvazinky Friedhof in Prag Smíchov. Vor genau drei Jahren, am 1. Oktober 2019, starb er.

Und er ist dort zweifellos der Publikumsmagnet. Obwohl mir keine offiziellen Statistiken bekannt sind, kann man getrost davon ausgehen, dass ein Großteil der Besucher dieses keineswegs zentral gelegenen Friedhofs seinetwegen hierhin kommt. Um das Grab befindet sich ein wahres Meer von Kränzen, Blumen (meist Rosen) und brennenden Grablichtern. Es ist eine echte Pilgerstätte geworden. Meist befinden sich kleinere Gruppen von Fans – in der Mehrzahl mittelalte Damen, deren Herzen er einst gewann – vor dem Grab, die andächtig vor dem Grab gedenken oder sich angeregt über Gott (und die Welt?) unterhalten. Aus Pietätsgründen habe ich die natürlich nicht photographiert. Ja, ob man seine Musik mag oder nicht: Karel Gott war der größte aller Gesangs-Stars im Lande. Er war eine Institution. Seine Fans gingen immer für ihn durch Dick und Dünn. Rund 30 Millionen Tonträger, so schätzt man, hat er zu Lebzeiten verkauft. Die Hälfte davon im eigenen Lande. Was bei so einem kleinen Land eine Menge ist. Und das sagt auch, dass er außerhalb ein Star der Mega-Dimension war. Das galt besonders für Deutschland (vor 1989 sowohl im Westen als auch im Osten), wo der sprachbegabte Gott schon früh als Deutsch sprechender und singender Schlagerstar reüssierte. Es begann 1967 mit Weißt Du wohin (eine Schnulzfassung des Schiwagoliedes). Und es folgte mehr. Man darf dabei auch nicht das Titellied der erfolgreichen Trickserie Biene Maja von 1975 vergessen. Aber eine Aufzählung der deutschen Riesenhits unterlassen wir hier lieber, da sie überhaupt nicht mehr enden würde. Gott war geradezu Stammgast in allen relevanten Showsendungen des Fernsehens. Schon 1975 wurde in Wuppertal der erste deutsche Fanclub gegründet, dem unzählige folgten.

Eigentlich hatte der in Pilsen Geborene Kunstmaler werden wollen, scheiterte aber an der Aufnahme in die Kunstakademie. Seine Eltern sahen mit Sorge, dass er wohl ein Leben führen wollte, dass der Kunst gewidmet sei, also brotlos werden würde. Auch wenn sich das nicht bewahrheiten sollte, gaben sie ihm den eigentlich klugen Tipp, erst einmal bei dem Prager Maschinenbaukonzern ČKD eine Lehre als Starkstromelektriker zu machen. Währenddessen trat er aber schon ab und an als Sänger in Bars und Tanzcafés auf und studierte sogar drei Jahre auf dem Prager Konservatorium Gesang. Er hatte Erfolg auf der Bühne, wurde entdeckt und brachte 1963 seine erste Single Měsíční řeka (eine tschechische Cover-Version von Moon River) heraus, die ein Hit wurde. Es folgten erfolgreiche Auftritte im Ausland. Beim Grand Prix Eurovision 1968 – heute nennt man den Eurovision Song Contest – trat er seltsamerweise sogar für Österreich an. Na ja, es blieb damit immerhin im alten Habsburgerreich.

Obwohl er seine größten Erfolge zweifellos in der Tschechoslowakei bzw.Tschechien und Deutschland feierte, gelangen ihm auch Verkaufserfolge in anderen Ländern. Er nahm Lieder in Englisch, Französisch, Japanisch, Serbokroatisch (gibt es nicht mehr), Russisch, Ungarisch, Romani, Hebräisch und etlichen anderen Sprachen auf. Er wurde damit auch zum netten und freundlichen Aushängeschild des damals von Kommunisten hart regierten Landes. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 spielte er anscheinend mit dem Gedanken, ins Ausland zu ziehen, aber er blieb und passte sich an, was zunächst leicht fiel, da er ja nie politische Lieder sang, sondern einfache Schlager. Aber am Ende passte er sich zu sehr an. Als 1977 der Kreis der Dissidenten um Václav Havel das weltweit Aufsehen erregende Manifest Charta 77 veröffentlichte, trommelte die kommunistische Führung Prominente zusammen, die mit vorgespielter Abscheu ein Dokument, das sie eigentlich gar nicht kennen durften, verdammten, um dann eine sogenannte Anti-Charta zu unterzeichnen. Der erste, der bei der großen Zeremonie im Nationaltheater in Prag am 28. Januar 1977 das loyalistische Dokument feierlich unterzeichnete, war kein Geringerer als Karel Gott. Natürlich hatte die Staatssicherheit Druck auf ihn ausgeübt. Und der war so groß, dass selbst recht offen kommunismuskritische Künstler, wie etwa der Schriftsteller Bohumil Hrabal (über ihn berichteten wir u.a. hier und hier), die Erklärung unterschrieben. Trotzdem: Für viele Dissidenten hatte er damit Würde und Anstand weit hinter sich gelassen. Zu denen gehörte lange Zeit seine Schlagerkollegin Marta Kubišová, die zu den Dissidenten und Erstunterzeichnern der Charta 77 gehört hatte. Hatten die beiden zuvor sogar noch Duette gesungen, blieb das Verhältnis danach für lange etwas gestört, denn während Gott nun weiterhin ein Luxusleben mit Auslandsreisen führen durfte, wurde Kubišová brutal verhört, öffentlich verleumdet, bekam Berufsverbot und musste als Hilfsarbeiterin ihr Brot verdienen und wurde ständig von der Staatspolizei überwacht und bedroht. Der Vergleich zu der mutigen Kubišová (die 1989 bei der Samtenen Revolution an vorderster Stelle mit dabei war) ließ Gott in der Tat nicht sonderlich heldenhaft erscheinen.

Die Masse der Fans störte das überhaupt nicht. Den deutschen Fans war es egal und er trat immer noch erfolgreich im Fernsehen auf und sammelte auch immer noch wie wild Goldene Schallplatten und andere Preise für hohe Verkaufszahlen. Die „Goldene Stimme aus Prag“ war er und blieb er für die Deutschen. Nun gut, Deutsche waren zumindest im Westen ja auch nicht von kommunistischer Repression betroffen. Und in der Tschechoslowakei war es – auf den ersten Blick überraschend, weil da doch die rote Diktatur herrschte – genauso. Der Erfolg blieb ungebrochen. Die Erklärung dürfte sein, dass nur die allerwenigsten Bürger des Landes aktive Widerständler und Dissidenten waren. Der Normalbürger mogelte sich irgendwie durch und musste auch unter widrigen Bedingungen sehen, wo er blieb und passte sich an. Für diese Mehrheit der Menschen war das Verhalten Karel Gotts eigentlich irgendwie durchaus verständlich. Es verfestigte möglicherweise sogar das sorgfältig gepflegte Image, er sei der normale nette Junge von nebenan; eben einer „von uns“. Anpassungsfähigkeit war wohl die Tugend der meisten Tschechoslowaken. Und Karel Gotts Stärke war ja anscheinend auch seine Anpassungsfähigkeit. Das galt nicht nur, wenn es um Politik ging, aber eben auch da. Er erkannte auch bei der Musik stets die Zeichen der Zeit und passte sich immer musikalisch an. Als die traditionelle Schlagerschnulze langsam von Rockmusik verdrängt wurde, sprang er auch auf diesen Zug, aber so, dass ihm die alten Fans noch folgen konnten. Die liebten es auch, wenn er 1968 Beatles-Lieder sang. Und ehrlich gesagt: Rocksongs, wie etwa das bekannte Paint it Black (1966) der Rolling Stones, gewannen durch seine im gleichen Jahr aufgenommene Interpretation (Schwarz und Rot) erst wirklich Tiefe. Später ging er noch weiter, als er 2008 sogar gemeinsam mit dem Brutal-Rapper Bushido das Lied Für immer jung aufnahm. Man glaubte es nicht.

Und politisch kriegte er auch wieder die Kurve als es mit dem Kommunsmus zu Ende ging. Auf dem Höhepunkt der Samtenen Revolution von 1989 sang er er auf einmal bei einer Demonstration gegen das Regime mit dem Dissidenten und Protestsänger Karel Kryl (der nach 1968 verfolgt und ins Exil getrieben worden war) im Duett die Nationalhymne – so als hätte er nie die Anticharta unterzeichnet. Und irgendwie war er danach so populär, dass es 2003 sogar hieß, er solle als Nachfolger des abtretenden Václav Havel der Präsident des Landes werden. Da blieb ein unrealisiertes Projekt, aber immerhin: Er blieb im Gespräch. Inzwischen hatte er die Unterzeichnung der Anti-Charta öffentlich als schweren Fehler bereut. Höchstwahrscheinlich sogar ernsthaft, denn ein im Inneren überzeugter Kommunist war er wohl tatsächlich nie – dagegen sprach schon sein oft recht amerikanisch orientiertes Repertoire. Er förderte mit seinem Vermögen Künstler – vorzugsweise welche, die unter kommunistischen Drangsalierereien gelitten hatten. Selbst der wichtigste aller Dissidenten, Präsident Václav Havel, bezeichnete ihn als „ein Phänomen, das einfach in die tschechische Kulturlandschaft gehört“. Alles war vergeben. Und: Die meisten Tschechen hatten ihn sowieso immer und ungebrochen geliebt.

2015 erkrankte Karel Gott an Krebs. Er hielt das geheim und galt bei den Ärzten schon kurz darauf als geheilt. Aber 2019 kam der Krebs zurück, in Form einer Leukämie. Er wusste, dass er nicht mehr lange leben werde, und er teilte es erstmals der bestürzten Öffentlichkeit mit. Am 1. Okober 2019 starb er. Die Tschechen ohne Karel Gott, das hatte man sich nicht vorstellen können. Jetzt war es passiert. Die Regierung ordnete an, im Lande die Fahnen auf Halbmast zu hängen. Ein Staatsbegräbnis im Veitsdom wurde beschlossen, aber wegen des Protests einiger früherer Dissidenten in ein Begräbnis mit staatlichen Ehren umgewandelt. Aber dieser Protest war ein isoliertes Phänomen. Wer sich bisher nicht mit Gott versöhnt hatte, tat es jetzt. Auch Marta Kubišová wollte – einem der letzten Wünsche des Sängers folgend – auf einem Gedenkkonzert für ihn singen, musste aber aufgrund schwerer Gesundheitsprobleme absagen. Ihr Bedauern darüber war aufrichtig, weil schließlich Gott auch immer stets sein Bedauern über seine damalige Schwäche kundtat. Und sie sah ein, dass jeder Menschen Schwächen habe und nicht jeder Held sein könne. Am Tag der Beerdigung herrschte offizielle Staatstrauer. Um überhaupt eine Begräbnismesse im Veitsdom, abgehalten vom Prager Erzbischof, zugesprochen zu bekommen, musste man zuvor entweder König (vor 1918) oder Präsident (danach) sein. Am 11. Oktober wurde der Leichnam im Žofín Palast aufgebahrt, damit die Bevölkerung Abschied von ihm nehmen konnte. Hunderttausende kamen. In der Innenstadt kam der Verkehr fast zu Erliegen. Tags darauf fand die Begräbnismesse im Dom unter Beteiligung aller wichtigen Potentaten aus Politik und Kultur statt und dann wurde er im heimischen Smíchov – eben hier im Malvazinky Friedhof, über den wir im letzten Beitrag berichteten – zur letzten Ruhe gebettet. Der Grabstein ist schlicht gestaltet. Eine doppelte schwarze Steinplatte mit einem Laser-Gravur-Portrait und den Lebensdaten. Es ragt etwas höher als die meisten Gräber in der Umgebung. So wie Karel Gott in den Herzen der Tschechen alles überragt. (DD)

Friedhof voller Überraschungen

Von den beiden schönen Friedhöfen im Stadtteil Smíchov (Prag 5) ist er der weniger bekannte. Im etwas außerhalb der Zentren Viertel Malvazinky gelegen, kommen sicher noch weniger Touristen zufällig hier vorbei, als es beim ein wenig bekannteren Kleinseitner Friedhof (Malostranský hřbitov) der Fall ist, der ebenfalls in Smíchov liegt. Dabei gehört er wirklich zu den schönsten der Stadt, der Malvazinky Friedhof (Hřbitov Malvazinky).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Smíchov zu einem großen Industriestandort geworden, was ein enormes Bevölkerungswachstum zur Folge hatte. Dadurch entstand naturgemäß bald der Bedarf an einem großen öffentlichen Friedhof. Im jahre 1875 kaufte die Stadtregierung des damals noch nicht zu Prag gehörenden Smíchov (die Eingemeindung erfolgte erst 1922) ein größeres Grundstück, um dort einen städtischen Friedhof anzulegen. Das Grundstück befand sich auf dem Land eines ehemaligen Gehöftes, das 1628 von einem Kleinseitner Bürger namens Tomáš Malvazy gegründet worden war, und nach dem nunmehr das ganze Ortsviertel (čtvrť) Malvazinky benannt wurde. Die Planung des neuen Friedhofs wurde em bekannten Architekten Anton Viktor Barvitius (wir stellten ihn bereits u.a. hier und hier vor) übertragen. Und schon im Jahre 1876 wurde der Friedhof feierlich eröffnet.

Der nächste Schritt erfolgte am 13. September 1894. An diesem Tag wurde der Grundstein für eine neue große Friedhofskirche gelegt (normalerweise begnügen sich Friedhöfe mit dem kleineren Format einer Kapelle). Und schon am 28. Mai 1896 wurde das wiederum von Antonín Barvitius entworfene Bauwerk feierlich geweiht. Die neue Kirche der Heiligen Philippus und Jakobus (Kostel svatého Filipa a Jakuba) wurde mit Hilfe von Materialien erbaut, die noch von dem 1891 erfolgten Abriss der gleichnamigen Barockkirche weiter innerhalb von Smíchov, am heutigen Arbes Platz erhalten waren. Auch die Glocken der alten Kirche wurden übernommen. Allerdings war der Stil ein gänzlich anderer. Arbitius legte hier ein beachtliches Meisterwerk der Neoromanik in Prag vor, stilecht mit schönen Rundbögen bei Fenstern und Arkaden.

Die Kirche wurde – obwohl sie sich von ihrer Größe her dazu eignete – natürlich zunächst hauptsächlich für Beerdigungszeremonien genutzt und nur ab und an für reguläre Gottesdienste. Die fanden in der Regel für bei den kirchlichen Gedenktagen für die namengebenden Heiligen Philippus und Jakobus, sowie an Allerseelen statt. Nur ab 1928 wurden für einige Jahre regelmäßige Gemeindegottesdienste hier abgehalten. Die bisherige, recht karge Innenausstattung wurde 1913 grundlegend erneuert. Es kamen Fresken und ein großer Hauptaltar dazu. Einige der Figuren des Hauptaltars wurden in den 1980er Jahren bei einem Einbruch gestohlen. Das Innere kann man natürlich nur bei Beerdigungen sehen, d.h. es ist normalerweise nicht zugänglich. Aber die Freskenmalerei der damaligen Zeit kann man auch bei den Grabmalereien in den Arkaden (links) außen studieren. Das Ganze hinterlässt den Eindruck einer damals recht wohlhabenden Gemeinde hier in Smíchov.

Ja, und seit 1876 liegt auch genügend Zeit zurück, dass hier ein wunderschöner alter Baumbestand aufwuchs. Der Friedhof mutet wie ein kleiner Landschaftspark an und lädt gerade an warmen Sommertagen zu kleinen meditativen Spaziergängen im „Grünen“ ein. Hinzu kommt – vor allen in den älteren Teilen des Areals – ein reicher Schatz an prachtvoller Sepulkralkultur. Sie schlägt sich nicht nur in schönen Grabsteinen, sondern auch in vielen stattlichen Mausoleen nieder, wie wir sie hier im Bild rechts bewundern können. Wie es so oft auf alten Friedhöfen der Fall ist, bekommt man hier im Malvazinky Friedhof einen Eindruck von der Entwicklung von Kunst, Bildhauerei und Architektur der letzten anderthalb Jahrhunderte.

Und bei einem solchen Spaziergang durch die Gräberreihen findet man natürlich auch die Grabstätten berühmter Menschen. Zuvörderst wäre da der Schriftsteller Jakub Arbes zu nennen, einem der Begründer der tschechischen phantastischen Literatur, über den wir schon hier berichteten. (Bild links). Der war der literarische „Local Hero“ und viele seiner Geschichten spielen sogar in Smíchov, etwa die berühmte Geschichte Newtons Hirn (Newtonův mozek) von 1877. Auf dem Grabstein befindet sich ein hübsches Portrait-Medaillon.

Auch die Brüche und Widersprüche der tschechischen Geschichte spiegeln sich hier wieder. So findet man hier sowohl das Grab eines der kommunistischen Präsidenten der Tschechoslowakei, nämlich Antonín Novotný, als auch das Grab des wackeren „Untergrundbischofs Kajetán Matoušek, der tapfer gegen die Kommunisten Widerstand leistete. Nach der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings wirkte er in einer Art Untergrundkirche, denn die kommunistische Führung verweigerte ihm jegliche Akkreditierung. Erst mit dem Ende des Kommunismus im Jahre 1989 durfte er wieder öffentlich auftreten.

Nicht vergessen darf man natürlich das Grabmal eines lokalen, recht göttlichen Sängers, der allerdings so bedeutend war, dass wir noch gesondert darüber berichten werden.

Aber es gibt auch viele überaus interessante Gräber, die nicht die letzte Ruhestätte eines besonder berühmten Menschen markieren, aber dennoch überaus beeindruckend sind. Unweit des Haupteingangs befindet sich zum Beispiel das Grab von Karel Smutný, der von 1871 bis 1933 lebte. Die bronzene Büste auf dem Grabstein wirkt kolossal und zeigt den Verstorbenen in einer Uniform mit einer riesigen Bärenfellmütze. Das weist ihn eindeutig als Angehörigen der damals in Russland kämpfenden Tschechoslowakischen Legion aus, worauf er wohl sehr stolz war – warum sonst dieser Grabschmuck? Sogar mit seinem Militärtitel Podplukovnik, was soviel wie Oberstleutnant bedeutet? Die Legionen waren autonome Truppeneinheiten, die die Alliierten der Entente aus Exiltschechen, Kriegsgefangenen und Überläufern aus der kakanischen Armee zusammengestellt hatten, die nicht mehr für das Habsburgerreich, sondern für die Unabhängigkeit und Freiheit der Tschechoslowakei kämpfen wollten (frühere Beiträge u.a. hier, hier, hier und hier). Die in Russland operierenden Einheiten kämpften noch gegen die kommunistischen Bolschewiki als der tschechoslowakische Staat bereits gegründet worden war (1918). Die letzten Legionäre kehrten erst Ende 1920 zurück. Gerne häte ich gewusst, was für eine Geschichte hinter Karel Smutnýs Grab steht, aber leider ließ sich das nicht herausbekommen. Aber sein Grab hat ihn in der Tat verewigt. Und es wird der Rolle der Legion in der tschechischen Nationalmythologie voll gerecht.

Kurz: Das nach einer Erweiterung im Jahre 1897 nunmehr 7,58 Hektar (ursprünglich waren es 3,2 Hektar) umfassende Friedhofsareal von Malvazinky, das heute mit rund 13.400 Gräbern der viertgrößte unter den Prager Friedhöfen ist, hält viele Überraschungen bereit. Und die können sogar mehrere Besuche rechtfertigen. (DD)

Ein Stück Russland in Prag

Er ist ein kleines Stück Russland in Prag, der russisch-orthodoxe Friedhof mit der Kirche Mariä Himmelfahrt (russ.: Храм Успения Пресвятой Богородицы). Das Ganze ist eine Sektion der großen, zentralen Olšanské hřbitovy (Olšany-Friedhöfe) in Žižkov (Prag 3) und befindet sich im östlichen Teil der Anlage.

1925 geweiht, ist sie keine sehr alte Kirche. Aber man kann sich denken, warum es in dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg notwendig wurde, einen eigenen Friedhof für orthodoxe Russen anzulegen. Eine kleine russische „Expat-Community“ hatte es in Prag schon seit Urzeiten gegeben. Seit 1871 nutzten die Russisch-Orthodoxen die barocke Nikolaus-Kirche (Kostel svatého Mikuláše) am Altstädter Ring für ihre Gottesdienste. Die ehemalige Klosterkirche, die von Kaiser Joseph II. 1787 enteignet wurde und lange Zeit als Lagerraum diente, wurde prächtig umgebaut und war die erste russisch-orthodoxe Kirche in Böhmen. Bald dachte man an einen eigenen Friedhof für die stetig wachsende Minderheit. Aber die verliefen 1905 im Nichts, obwohl der Stadtrat schon ein Grundstück auf den Olšany-Friedhöfen zur Verfügung gestellt hatte. Und dann kam der Erste Weltkrieg, der alles veränderte. Russland war auf einmal Kriegsgegner (Böhmen war ja Teil des Habsburgerreichs) und damit wurden irgendwie auch die Russen im Lande den Behörden suspekt. Die Nikolauskirche wurde der russisch-orthodoxen Gemeinde genommen und nach der Unabhängigkeit des Landes 1920 der republiktreuen Tschechoslowakischen Kirche (Církev československá) zugesprochen, die hier bis heute ihre Hauptkirche hat. Bis 1945 war den Orthodoxen aber erlaubt, dort Gottesdienste abzuhalten.

Gleichzeitig tobte in Russland die Revolution und der Bürgerkrieg zwischen den Bolschewiki und den Weißen. Eine riesige Welle von Flüchtlingen, die dem Kommunismus zu entkommen versuchten, schwappte über Europa. Auch in Prag schwoll die Zahl der Exilrussen dramatisch an. Der Bedarf an einem eigenen Friedhof mit Kirche wurde immer dringlicher. 1921 formierte sich Bruderschaft Mariä Himmelfahrt (Успенское братство), die den Russisch-Orthodoxen eine neue Glaubensheimstatt in Prag schaffen wollte. Das Anliegen erfuhr einen großen Schub in der Öffentlichkeit, als sich der erste Ministerpräsident der unabhängigen Tschechoslowakei, Karel Kramář, an der Spendenaktion beteiligte. Der war russophil und sogar mit einer Russin verheiratet. Er sollte übrigens 1937 nach seinem Tod auch in der Kirche, die er zu gründen half, beerdigt werden. Aber auch andere Prominente setzten sich aus Sympathie mit den vom Kommunismus Verfolgten für den Bau der Kirche ein, darunter mit Antonín Švehla ein Nachfolger Kramářs im Amt des Ministerpräsidenten.

Wie dem auch sei: Das Geld kam zusammen und so konnte schon 1924 der Grundstein gelegt und im November 1925 die Kirche geweiht werden. Der Bauplan der Kirche stammte von dem im russischen St. Petersburg geborenen Architekten Vladimír Alexandrovič Brandt, der sich im tschechischen Exil durch etliche Gebäude für russisch-orthodoxe Gemeinden hervortat (Beispiel hier). Er war auch mit Ministerpräsident Kramář gut bekannt und baute von 1927 bis 1931 dessen private Landvilla im bergigen Vysoké nad Jizerou. Beim Bau der Friedhofskirche in Prag orientierte er sich klar an alt-russischen Vorbildern, die er modern variierte. Dazu passen auch die großen Wandgemälde in Form von Ikonen, die die Außenwände schmücken. 1927 erstellte die Künstlerin Marie Viktorie Foersterová das Mosaik der Gottesmutter (kleines Bild links) über dem Eingang. Auf der Rückseite befindet sich ein Mosaik des Erzengels Michael (rechts).

Eine Besonderheit der Kirche ist zudem der kleine seitliche Glockenturm. Zur großzügigen Finanzierung der fünf großen Glocken trug vor allem König Alexander I. von Jugoslawien bei – ein anderes Indiz für die panslawistisch und antikommunistisch motivierte Solidarität vieler damaliger Politiker mit den Exilrussen. Viele der nach 1918 entstandenen Staaten – darunter eben die Tschechoslowakei und Jugoslawien – fühlten sich durch den Kommunismus besonders bedroht.

Das Interieur, das führend von dem Maler Iwan Jakowlewitsch Bilibin gestaltet wurde, ist leider für den „normalen“ Besucher des Friedhofs in der Regel nicht zu besichtigen.

Als Gemeindekirche blieb die Kirche den Russisch-Orthodoxen auch nach dem Zweiten Weltkrieg und in kommunistischen Zeiten erhalten. In den 1970er Jahren wurde sie sogar grundlegend renoviert. Aber den ursprünglichen „politischen“ Charakter verlor sie in diesen Zeiten. Denn die Emigranten, die nach 1917 vor den Bolschewisten in den sicheren Hafen Prags flohen, mussten 1945 mit der Ankunft der Roten Armee erfahren, dass dieser Hafen keinesfalls mehr sicher war. Es kam sofort zu Verhaftungen und Verschleppungen in Lager nach Sibirien. Viele fanden den Tod. Die russische Community, wie es sie in der Ersten Republik gab, hatte im Prinzip aufgehört zu existieren. Fortan war die russische Bevölkerungsgruppe in Prag eher klein und bedeutungslos. Erst nach dem Ende des Kommunismus wuchs sie wieder ein wenig. Eine bronzene Gedenktafel erinnert heute an die Menschen, die damals in jene Sowjetunion verschleppt wurden, deren Schreckensregime sie entkommen zu sein glaubten. (DD)

Gedenken an den Matrosenaufstand

Bisweilen wird Shakespeares Satz, Böhmen sei ein Land an der Küste (Wintermärchen, Akt 3, Szene 3), in Zweifel gezogen, worüber ich mich bereits hier ausgelassen habe. Denn, sollte er sich geirrt haben, wieso gibt es dann in Prag ein Denkmal der Opfer des Matrosenrates (Pamětní deska Obětem z řad námořníků), das explizit tschechischer Seeleute gedenkt?

Scherz beiseite, denn hinter dem Denkmal auf dem großen Olšany Friedhof verbirgt sich eine tragische und erschütternde Episode aus der Endphase des Ersten Weltkrieges. Böhmen lag auch damals zwar tatsächlich nicht am Meer, gehörte aber zum Habsburgerreich, das über eine lange Meeresküste an der Adria verfügte. Dort hatte auch die durchaus nicht unbeträchtliche Österreichische Marine ihre Stützpunkte, von denen Pula der zentrale und größte war. Das bedeutete, dass auch zahlreiche tschechische Matrosen und Seeleute in der k.u.k. Kriegsmarine dienten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren rund 10,6% der Marineangehörigen aus Böhmen. Da Böhmen das bei weitem industrialisierteste und technisch fortgeschrittendste Land des Habsburgerreichs war, fand man Tschechen überproportional bei den technisch modernen Waffentypen, insbesondere bei der U-Bootflotte. Von den Kriegsgegnern im Mittelmeerraum hatte die Flotte kaum größere Gefahren seitens einer feindlichen Marine zu fürchten. Ein Großteil der Einsätze bestand auch der Beschießung feindlicher Hafenstädte und -befestigungen. Dort wurden zunehmend Wasserminen zur Gefahr für die Schiffe.

Die Marine hielt sich dabei wacker, aber als 1918 das Ende dies Kriegs sich nahte, wurde die Lage immer prekärer. Ein Sieg wurde immer unwahrscheinlicher. Es herrschte nicht nur Material- sondern auch Versorgungsmangel. Sowohl in der Armee als auch in der Zivilbevölkerung kam es immer wieder zu kleineren Protesten, Streiks und Unruhen. In der Marine versuchten die höheren Offiziere solchen Vorgängen durch die Verschärfung von Drill und Exerzieren vorab beizukommen. Petitionen von Mannschaften auf Milderung des Disziplinarregimes wurden brüsk zurückgewiesen. Das heizte eher die Stimmung unter den Mannschaften auf, die immer weniger den Sinn des Ganzen erkennen konnten, aber die Härte der Disziplinierung spürten.

Am 1. Februar 1918 war das Fass zum Überlaufen gekommen. Auf dem damaligen Flaggschiff der Flotte, dem Panzerkreuzer SMS St. Georg, das gerade in der Bucht von Kotor (heute Montenegro) lagerte, übernahm die Mannschaft das Kommando und setzte Kapitän, Offiziere und vor allem den Ranghöchsten an Bord, Konteradmiral Anton Alexander Ignaz Friedrich Hansa, unter Arrest. Es begann, der Matrosenaufstand von Cattaro (Kotor trug damals den italienischen Namen Cattaro). Unter dem Kommando des aus einer deutsch-tschechischen Familie stammenden František Rasch (manchmal auch Franz Rasch) bildete sich ein Matrosenrat, der Kontakt zu den anderen Schiffen der Flotte aufnahm. Rund 6000 Marineangehörige auf 40 Schiffen (bei weitem der größte Teil der österreichischen Marine) schlossen sich der Aktion umgehend an. Vor allem der Kroate Anton Grabar mit Rasch übernahm die ideologische Führung. Nachdem die Aufständischen fast die ganze Marine unter Kontrolle hatten, stellten sie ihre politischen Forderungen.

Die bestanden aus zwei Teilen. Obwohl die Aufständischen stark von sozialistischen Ideen geprägt waren und auf den Schiffen der k.u.k. Marine nun rote Fahnen wehten, waren die Forderungen durchaus moderat. Man wollte einfach Verbesserungen bei den Lebensbedingungen – Nahrung, Rauchtabak, keine sinnlosen Disziplinierungen. Das sprach naturgemäß die meisten Matrosen an, aber eben nicht alle. Die Besatzungen der wenigen Schiffe, die gerade im Kampfeinsatz waren, bekamen bessere Rationen als die, die schon seit Wochen im untätig im Hafen lagen. Und sie fühlten sich (menschlich verständlich) düpiert, dass die „Etappe“ meuterte, während sie gerade an der Front kämpften. Das sorgte dafür, dass es doch noch etliche Schiffe gab, die sich nur widerwillig unter Druck oder gar nicht dem Unternehmen anschlossen. Und dann waren da die politischen Forderungen: Die drehten sich um einen sofortigen Friedensschluss, wie er zwischen den Mittelmächten und Russland sich gerade abzuzeichnen begann. Das sollte auf Grundlage der 14 Punkte geschehen, die gerade im Januar der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verkündet hatte, und die vorsahen, dass es keinen Siegfrieden geben, dass die Demokratie ihren Siegeszug antreten, und dass allen Völkern das Selbstbestimmungsrecht zukommen solle. Gerade letzteres fand unter den Matrosen, die in der Mehrheit keine Deutsch-Österreicher waren, sondern Kroaten, Tschechen usw., viel Anklang. Für die österreichische Marineführung galt dergleichen jedoch Landesverrat und als subversive Forderung mit dem Ziel der Zerstörung der Doppelmonarchie.

Es mag sein, dass den Aufständischen nicht bewusst war, wie absolut unannehmbar die politischen Forderungen für die Marineführung waren. Naiverweise traute man dem Ehrenwort der Offiziere, die sich weiter frei auf den Schiffen bewegen konnten, sich selbst aber an kein Ehrenwort gegenüber „Meuterern“ gebunden fühlten. Konteradmiral Hansa beließ man sogar seinen Telegrafenapparat in der Kabine, was der dazu nutzte die loyalen Schiffe zu kontaktieren und mit dem Marinekommando in Kotor das weitere Vorgehen zu koordinieren. Inzwischen, am zweiten Tag des Matrosenaufstands, waren die Schiffe um die St. Georg mehr oder minder im Hafen eingeschlossen. Den Vorschlag mit Gewalt auszubrechen, lehnte Rasch ab, weil er hoffte, immer noch verhandeln zu können. Die Einbindung des Parlaments in Wien gehörte nun zu den zusätzlich aufgestellten Forderungen, weil es dort sozialdemokratische Sympathisanten gab. Es gab ersten Beschuss von der Hafenfestung. Deutsche U-Bootfahrer, die zuvor eingelaufen waren, boten der Marineführung an, bei der Niederschlagung zu helfen. Immer mehr, teilweise nur widerwillig in den Aufstand involvierte Schiffsmannschaften sprangen ab. Am dritten Tag liefen die ersten Kriegesschiffe in die äußere Bucht von Kotor ein, um ebenfalls bei einer möglichen Niederschlagung einzugreifen. Rasch fand auch bei der eigenen Mannschaft mehr genügend Unterstützung zur Weiterführung der Aktion. Er ließ die rote Fahne auf der St. Georg streichen und ergab sich Konteradmiral Hansa.

Am nächsten Tag folgte das grausame Blutgericht. Über 800 Matrosen wurden verhaftet, während der Hafenkommandant das Standrecht verhängte. 40 Angeklagte wurden vor das Standgericht gestellt, das am 7, Februar zusammentrat und bis zum 10. Februar den Fall erledigen sollte. Das Verfahren lief fehlerhaft und parteiisch ab. Der Zivilverteidiger der Angeklagten kam erst einen Tag vor dem Urteil am Ort an, und legten vergeblich Protest ein, das die Präklusivfrist überschritten worden sei und ein fairer Prozess unmöglich sei. Das ließ das Gericht nur für 18 Angeklagte gelten. Auch wurden etliche Zeugen nicht mehr gehört, weil das Gericht sich unter Zeitdruck befand. Am Ende wurden am 10. Februar die meisten Fälle vertagt, aber sechs Angeklagte drakonisch bestraft, zwei zu langen Zuchthausstafen und vier – Rasch, Gabar und zwei weitere – zum Tode verurteilt. Eine eilig von der Verteidigung verfasste Gnadenpetition an den Kaiser blieb unbeantwortet, schon weil sie zu spät kam. Denn das Urteil wurde schon am nächsten Morgen, dem 11. Februar, an der Friedhofmauer von Kotor vollstreckt. Zweimal gehorchten die Soldaten, die als Erschießungskommando abkommandiert worden waren, dem Schießbefehl ihres Offiziers nicht. Einer der Soldaten fiel sogar in Ohnmacht. Erst beim dritten Kommando fielen schließlich die Schüsse. Gabar war nicht sofort tot und bekam zwei „Gnadenschüsse“ bis auch er nicht mehr lebte.

Für die übrigen Angeklagten, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen, waren Prozesse für einen späteren Zeitraum anberaumt. Zu Schuldsprüchen kam es in den Wirren der Endphase des Kriegs nicht mehr, aber auch nicht mehr zu Freisprüchen. Das hatte auch etwas damit zu tun, dass die Opposition im Österreichischen Parlament in Wien inzwischen von der Sache erfahren hatte. Der Anführer der Sozialdemokraten, der gebürtige Prager Viktor Adler, sprach beim Kriegsminister vor und protestierte gegen die rechtlich wacklige und übereilte Hinrichtung. Er bekam das Versprechen, dass es keine Todesurteile und Vollstreckungen in Sachen Matrosenaufstand mehr geben sollte – ein Versprechen, dass auch tatsächlich gehalten wurde. Und die vertagten Prozesse fanden aufgrund des Kriegsendes nicht mehr statt. Als nach der Niederlage im Krieg das Habsburgerreich auseinanderfiel und zahlreiche neue „Nationalstaaten“ entstanden, wie Polen, Jugoslawien oder die Tschechoslowakei, wurde dort jeweils der Matrosenaufstand als eine Heldentat im Namen der Selbstbestimmung der Völker wahrgenommen.

Womit wir bei dem Denkmal für die tschechoslowakischen Seeleute auf dem Prager Olšany Friedhof sind. Das wurde im Jahre 1936 an der Mauer des Areals des Friedhofs eingerichtet, in dem sich die Gräber der Opfer des Ersten Weltkriegs befinden (Bild links). Man sieht dort einen Anker, der vor einer Wand liegt, auf der eine große Bronzetafel angebracht ist. Deren Text lautet auf Deutsch übersetzt: „In Erinnerung an die hingerichteten, ertrunkenen und gefallenen toten tschechischen Seeleute, gespendet von der Gemeinschaft ehemaliger Matrosen und den Teilnehmern des nationalen Widerstands an der Adria in Prag – 1936.“ Damit wurde das gängige Geschichtsbild der Ersten Tschechoslowakischen Republik bestätigt, die das Ganze als eine hauptsächliche von Tschechen inspirierte und geführte Aktion im nationalen Geiste interpretierte. Das griff möglicherweise doch ein wenig zu kurz . Allerdings hatte immerhin Konteradmiral Hansa (der unmittelbar nach dem Aufstand von der Marine in den Ruhestand versetzt wurde) vor Gericht attestiert, dass ohne die Führung des Tschechen Rasch der Aufstand kaum so organisiert abgelaufen wäre. Dass Rasch die Hauptperson im Geschehen war, ist auch kaum zu bestreiten. Dass Tschechen insgesamt die Avantgarde der nationalen Befreiung waren, ist wohl trotzdem eine Überhöhung der eigenen Bedeutung, die man sich damals aber gerne erlaubte.

Immerhin hatte der Aufstand eine indirekte Verbindung zur Verkündung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918. Da ja rund 6000 Marineangehörige daran teilgenommen hatte, versuchte die Marineführung die bestehenden Einheiten, in denen man noch „revolutionäre Seilschaften“ vermutete, auseinanderzutrennen, zu deaktivieren oder gar zum Sonderurlaub an Land zu schicken. Auf diese Weise versammelte sich in Prag bald eine Gruppe von rund 80 bis 120 Seeleuten der Marine, die am Aufstand von Cattaro teilgenommen hatten, und die teilweise Beurlaubte, teilweise Deserteure waren. Als am 28. Oktober die provisorische Regierung, der sogenannte Tschechoslowakische Nationalausschuss, die bisher zum Habsburgerreich gehörenden staatlichen Institutionen übernahm, gehörte dazu auch die Entwaffnung und Entlassung der k.u.k.-Garnison in Prag. Ganz ohne militärischen Schutz wollte die Regierung in diesen revolutionären und unruhigen Zeiten aber doch nicht sein, und so wurden die in Prag befindlichen Matrosen des Aufstandes die erste Militäreinheit, die der Ausschuss direkt befehligte. Und auf deren Initiative dürfte dann 1936 das Denkmal errichtet worden sein.

Die nationalpatriotische Deutung der Ereignisse, wie sie sich in dem Denkmal widerspiegelt, war aber längerfristig nicht die dominierende Interpretation im Geschichtsdiskurs. Die roten Fahnen über kakanischen Schiffen, das war ein zu schönes Bild, als dass die marxistische Geschichtsschreibung darauf verzichten konnte, es ideologisch zu instrumentalisieren – selbst wenn es trotz der eindeutig sozialistischen Sympathien von Rasch und vielen seinen Mitstreitern keinen Hinweis darauf gibt, dass sich die Aufständischen (die eher Kontakt zu den österreichischen Sozialdemokraten pflegte) in großem Maße kommunistisch radikalisiert hatten. Den Anfang machte der Journalist und Schrifsteller Bruno Frei, ein Mitglied der KPÖ, im Jahre 1927 mit seinem im Stil einer Reportage geschriebenen Buch Die roten Matrosen von Cattaro. Das Buch wurde dann 1930 wiederum die Vorlage für das recht erfolgreiche Drama Die Matrosen von Cattaro des kommunistischen Schriftstellers und Politikers Friedrich Wolf (übrigens der Vater von Markus Wolf, dem langjährigen Chef der Auslandsspionage der „DDR“). 1957 veröffentlichte der österreichische „Arbeiterschriftsteller“ und Kommunist Franz Xaver Fleischhacker einen Roman zum Thema unter dem Titel „Cattaro. Roman aus den letzten Tagen der k.u.k. Kriegsmarine“. Fleischhackers Buch wirkte einigermaßen authentisch, da er als junger Seemann noch selbst auf einem Torpedoboot bei dem Aufstand dabei gewesen war. Und die Liste kommunistisch geprägter Autoren, die sich mit dem Thema befassten, ließe sich beliebig verlängern. Inzwischen wird das Thema nicht mehr so ideologisch behandelt und die seriöse Geschichtsschreibung hat Einzug gehalten. Zum 100. Jahrestag erschienen einige gute Monographien, wie etwa Peter Fitls Buch „Meuterei und Standgericht“ (2018), die mithin darauf hinwiesen, dass dem Aufstand ja gerade eine größere revolutionäre Perspektive fehlte, weshalb er als isoliertes Ereignis auch nicht einen generellen Umsturz bewirkte. Er sei nicht vergleichbar mit dem Kieler Matrosenaufstand in Deutschland im November 1918, der tatsächlich das Ende des wilhelminischen Reiches bedeutete. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine sehr bittere Episode aus dem Ersten Weltkrieg, die uns durch das Denkmal in Prag wieder ins Gedächtnis gerufen wird. (DD)

PS: Unter der Gedenktafel für die Matrosen von 1918 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine kleine Zusatztafel (Text übersetzt: „Wir werden die gestorbenen Brüder nicht vergessen, 1939-1945“) angebracht (Bild oberhalb rechts), die daran erinnert, dass es auch in diesem Krieg tschechoslowakische Seeleute gab, nämlich freiwillig bei der britischen und später bei der amerikanischen Marine dienende Exilanten, die auf hoher See ihren Beitrag leisten wollten, Hitler zu besiegen.

Verfall: Kein Licht am Ende des Tunnels

Bei dem Anblick schießen einem die Tränen in die Augen. Schloss Hořín (Zámek Hořín), gelegen nahe dem Zusammenfluss von Moldau und Elbe und rund 30 Kilometer nördlich von Prag entfernt, bietet ein Bild des Verfalls und Elends. Das einstige Prachtschloss des bedeutenden Adelsgeschlechts Lobkowicz ist durch Vernachlässigung und Fluten in einen Zustand geraten, den man wohl als hoffnungslos bezeichnen muss.

Beginnen wir, wie es ich gehört, am Anfang: Im Jahre 1696 ließ Hermann Jakob Czernin von Chudenitz durch den Architekten Giovanni Battista Alliprandi (wir erwähnten ihn bereits u.a. hier) in dem kleinen, 1319 erstmals als königliches Landgut erwähnten Ort Hořín ein großes barockes Jagdschloss bauen. Folgende Generationen bauten das Schloss stetig weiter aus. Franz Joseph Czernin von Chudenitz ließ dann in den Jahren 1713 bis 1720 das kleine Jagdschloss durch den Architekten Franz Maximilian Kaňka (uns u.a. hierdurch bekannt) in ein richtiges großes Prunk-Schloss verwandeln – zweistöckig mit großen Mansardendächern und drei Flügeln, an deren Bau noch der bekannte Barockarchitekt Filip Spannbrucker mitwirkte.

Zahlreiche Wirtschaftsgebäude wurden hinzugefügt und dazu noch ein großer Landschaftspark angelegt. 1744 ergänzte der Architekt Anselmo Lurago (der auch am Prager Stadtpalast, dem heutigen Außenminsterium, der Czernins mitgebaut hatte) das Schloss um eine stattliche Schlosskapelle. An der künstlerischen Ausstattung wirkten einige der großen „Kunststars“ des damaligen Böhmens mit, wie etwa der königliche Hofbildhauer Ignaz Franz Platzer (siehe auch früheren Beitrag hier) oder der Freskenmaler Johann Peter Molitor. Man sparte an nichts. Schloss Hořín gehörte nunmehr zweifellos zu den größten Schlössern im Umkreis von Prag.

Im Jahre 1753 heiratete eine Sprössin der Familie Czernin, Maria Ludmilla Czernin von und zu Chudenitz, keinen Geringeren als August Anton Joseph, Fürst von Lobkowicz. Damals wie heute gehörte das Geschlecht derer von Lobkowicz zu den wohlhabendsten und bedeutendsten Familien des Landes. Alleine in Prag nannten bzw. nennen sie zwei Paläste ihr eigen, über die wir hier und hier berichteten) und darüber hinaus gibt es unzählige andere in ganz Böhmen/Tschechien (Beispiel hier). Wenn man in solch eine Familie hineinheiratet, dann genügt als Mitgift keine Schachtel Pralinen. Das musste ein wenig mehr sein. Und so ging Schloss Hořín in den Besitz der Familie Lobkowicz über. Egal, wie teuer der Unterhalt eines solchen Schlosses auch sein mochte, die Zukunft des Gebäudes war gesichert. Bis zum Jahr 1939. Da verwandelten die Nazis das Land in das versklavte Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Die der Demokratie und der Ersten Republik treu ergebenen Lobkowiczs wurden enteignet. Als diese Episode zu Ende war, wurde der Besitz, der 1945 kurzfristig rückerstattet worden war, gleich 1948 durch die gerade an die Macht gekommenen Kommunisten abermals enteignet. Die Familie floh ins Exil. Die neuen Machthaber nutzten einen Teil von Schloss Hořín als Landwirtschaftsschule. Den Rest überließ man arger Vernachlässigung.

Als 1989 der kommunistische Spuk beendet wurde, bekamen die Lobkowiczs, die mit keiner totalitären Macht kollaboriert hatten, ihre Besitztümer zurück – was sich in vielen Fällen als große Bürde erwies. Schloss Hořín fiel bei der Restitution 1992 an Jan Jiři Lobkowicz, der aus seinem Exil in der Schweiz zurückgekehrt war, wo er ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen war. Er entstammte der Mělníker Linie des Hauses Lobkowicz, weshalb er auch das fast in Sichtweite auf dem anderen Elbeufer liegende Schloss Mělník restituiert bekam. Das war eine günstig gelegene Touristenattraktion, weshalb das Schloss und der dazugehörige Weinberg sich einigermaßen kostentragend restaurieren ließen. Die Anlage ist heute öffentlich zugänglich und in bestem Zustand. Für das etwas abgelegenere Hořín galt das nicht und die erlittenen Schäden waren auch vie größer. Projekte, das Schloss durch Millioneninvestitionen in etwas ökonomisch Sinnvolles zu verwandeln, verliefen früh im Sande.

Dann verwüstete auch noch im Jahr 2002 das große Moldauhochwasser Schloss und Areal. Und zwar gründlich. Was danach einigermaßen notdürftig reparariert wurde, fiel dem nächsten Hochwasser von 2013 zum Opfer. Alles das betraf nicht nur das Schloss selbst, sondern auch die einstmals prächtige Parkanlage und die Wirtschaftsgebäude, etwa die rechts abgebildete Wassermühle an einem der den Park durchfließenden Kanäle, die schon seit langem ohne Dach verfällt. Im Prinzip ist seither fast nichts mehr in Sachen Renovierung getan worden. Das ganze Areal ist gesperrt und für Besucher unzugänglich. Immer wieder versucht der Stadtrat den Besitzer dazu bewegen, Pläne für den Wiederaufbau vorzulegen – eine Bitte, die er aber bisher nicht nachgekommen ist. Nur wenn an den Grundstücksgrenzen durch eventuelle Einsturzrisiken der öffentliche Raum und Passanten gefährdet sind, kommt es zu Reparaturen, um die Gefahren abzuwenden. Ansonsten verfällt das Schloss zusehends. Und es scheint kein Licht am Ende des Tunnels. Man ist leicht deprimiert, wenn man durch den Zaun auf die Anlage guckt. Im April 2022 gab es Berichte, dass das Schloss verkauft werden solle. Ob dabei am Ende etwas herauskommt?

Einem zum Schlosskomplex gehörenden Bauwerk könnte es möglicherweise bald besser ergehen. Etwas außerhalb des Grundstück und heute mit dem örtlichen Friedhof verbunden, befindet sich nahe des Schlosses das große Mausoleum der Lobkowicz-Familie, genauer gesagt: die Friedhofskapelle des gesegneten Namens Jesu (hřbitovní kaple Nejsvětějšího jména Ježíšova), wo 23 Mitglieder der Familie Lobkowicz ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Die oktogonale Kapelle wurde irgendwann zwischen 1826 und 1849 von dem Wiener Architekten Hans Gasser erbaut. Der Stil ist neobarock und passt daher zum Baustil des – natürlich echt barocken – Schlosses. 1897 wurden hier einige MItglieder der Familie Lobkowicz, die vor dem Bau des Mausoleums verstorben waren, in einer großen Zeremonie, die vom Prager Erzbischof geleitet wurde, hierhin umgebettet.

Zu diesem Zeitpunkt war die Kapelle gerade (Bauzeit 1895-97) durch den berühmten Architekten Josef Schulz um eine halbkreisförmige Grablege ergänzt worden, wo sich nun die meisten der neueren Gräber befinden. Schulz galt als einer der Großmeister des Neobarock und hatte u.a. in Prag das Nationalmuseum (früherer Beitrag hier) und das Kunstgewerbemuseum (hier) gebaut – auch das ein Beleg für den Status der Familie Lobkowicz. Auch die Kapelle wurde bei den Hochwasser 2002 und 2013 schwer beschädigt und die Statik geriet in Gefahr. Vom Friedhof kann man die Anlage nicht mehr betreten. Sie ist abgesperrt. Allerdings dienen die Absperrungen seit 2018 dem Schutz der Baustelle, denn hier wird tatsächlich zur Zeit an der Restauration des Gebäudes gearbeitet. Das ist immerhin ein hoffnungsvolles Zeichen. Aber wann der Wunsch in Erfüllung geht, dass sich auch für das Schloss eine solche Perspektive eröffnet, das steht in den Sternen. (DD)

Modřany: Kirche und Kreuzweg

Trotz der Urbansierung, die der Stadtteil Modřany (Prag 12) ab dem 19. Jahrhundert durchmachte, und die sich nach der Eingemeindung zu Prag 1974 noch durch allerlei realsozialistische Stadtplanung nicht immer vorteilhaft für das Stadtbild entwickelte, findet man gerade hier noch viele Ortsteile, bei denen der alte dörfliche Charakter noch gut erhalten ist. Das gilt vor allem für die unmittelbare Umgebung der kleinen Kirche Mariä Himmelfahrt (Kostel Nanebevzetí Panny Marie).

Die auf einem Hügel befindliche Kirche (Adresse: K Dolům 31/5) ist tatsächlich sehr alt. So alt, dass man nicht genau weiß, wann sie entstand. Oft nimmt man die Erwähnung einer größeren Stiftung an den Ort Modřany durch den böhmischen Herzog Soběslav II. im 12. Jahrhundert als Startschuss für den Bau an. Erstmals direkt und völlig eindeutig erwähnt wird sie erst in einer Liste von Kirchen der Erzdiakonie Říčany im Jahre 1384. Anscheinend hatte der damalige Erzbischof sie schon 1380 einmal besucht. Aber es scheint sicher, dass das Gebäude da schon lange vorher stand. Es dürfte sich zur Zeit des Besuchs um eine gotische Kirche gehandelt haben, von der außen erkennbar nur noch der zugemauerte Rest eines alten Spitzbogenfensters (Bild links) zu sehen ist.

1420 begannen die Hussitenkriege. In deren Verlauf wurde der Ort samt Kirche zuerst 1427 von den (frühreformatorischen) Hussiten überrannt und niedergebrannt, 1429 dann gleich noch einmal von den katholischen „Herren“. Danach war sie weitgehend zerstört, wurde aber bald wieder aufgebaut. Sie befand sich nun im Besitz der gemäßigten Hussiten, den sogenannten Utraquisten, wenngleich die Gemeinde keinen eigenen Pfarrer mehr hatte. Das alles lief so weiter bis zur verhängnisvollen Schlacht am Weißen Berg von 1620 (wir berichteten u.a. hier), bei der die protestantisch-hussitischen Böhmen gegen die katholisch-österreichischen Habsburger verloren. Mit der Glaubensfreiheit und der Selbstbestimmung Böhmens war es vorbei und der Dreißigjährige Krieg tobte. Und das bekam auch die Kirche zu spüren. Zuerst wurde sie 1631 von sächsischen Truppen geplündert. 1639 benutzten die schwedischen Truppen unter General Johan Banér das Kirchengebäude als Lager und Waffenarsenal.

Inzwischen hatten sich die Besitzverhältnisse geändert. Unter der Herrschaft der Habsburger wurden Dorf und Kirche den Zisterziensern des Klosters von Zbraslav übereignet, das etwas südlich von Modřany auf dem gegenüber liegenden Moldauufer liegt. Nach dem Ende des Krieges 1648 begannen die Mönche damit, der Kirche das barocke Aussehen zu geben, das das Gebäude (nach etlichen späteren Modifikationen) im Kern noch heute auszeichnet. Ganz war die Leidenszeit der Kirche aber noch nicht vorbei. Das Areal um Modřany wurde 1742 zum Aufmarschgebiet französischer Truppen, die im Zuge des Österreichischen Erbfolgekrieges daran gingen, Prag zu besetzen. Die Kirche war Dank der Bemühungen der Zisterzienser mittlerweile viel zu schön ausgestattet, als dass man sie hätte unausgeplündert lassen können. Die Franzosen widerstanden dieser Verführung leider nicht und die Kirche wurde abermals arg demoliert. Im nächsten Jahr wurden sie allerdings wieder von den Österreichern vertrieben. 1754 lancierte der Abt von Zbraslav, Adam Aysl, ein großes Wiederaufbauprogramm. Die Kirche wurde von Grund auf renoviert, ein wenig vergrößert und der ebenfalls zerstörte Glockenturm neben der Kirche wurde neu errichtet.

Von nun an kehrte ein wenig mehr Ruhe und Frieden ein. Ein großes Feuer, das 1802 nebenan stehende Pfarrhaus samt Schule zerstörte, verschonte die Kirche. 1809 wurde das Pfarrhaus wieder frisch aufgebaut und eingeweiht. Zwischen 1881 und 1883 gab es größere Reparaturarbeiten an der Kirche, wobei insbesondere das große steinerne Kreuz vor dem Eingang des Kirchhof errichtet wurde – man sieht es im großen Bild oben.

1893 bekam die Kirche auch eine neue und moderne Orgel, die eine ältere kleine Orgel aus dem Jahr 1690 ersetzte. Die neue Orgel wurde von dem bekannten Orgelbauer Josef Vanický aus Třebechovice bei Hradec Králové (Königgrätz) erbaut. In dem außerhalb der Gotetsdienste nicht zugänglichen Inneren wurden auch sonst immer wieder modernisierende Anpassungen durchgeführt, zuletzt 1994.

In dieser Zeit wurde auch der alte Kirch- oder Friedhof, der die Kirche umgibt, ummauert. Der Friedhof wurde zuerst 1896 und dann noch einmal 1949 erweitert und die Ummauerung entsprechend angepasst. Vom Kirchhof aus kann man schön den separaten Glockenturm erkennen, den Abt Aysl 1754 bauen ließ und der außerhalb der Mauer auf eine höheren Hügel steht und von alten Bäumen umringt, in einer Art kleiner Parklandschaft steht. Bei dem Gebäude handelt es sich um ein auf einem quadratischen Sockel (mit abgeflachten Ecken) befindliches Oktogon. An allen Seiten befinden sich je drei Fenster mit neo-gotischen Spitzbögen – eine durchaus originelle Konstruktion. Im Turm befinden sich drei Glocken. Ursprünglich waren es nur zwei, die hier 1745 angebracht wurden. Die beiden Glocken, die nach den böhmischen Heiligen Nepomuk und Wenzel benannt wurden, wogen je 407 Kilogram. 1850 wurde noch die Glocke Maria mit einem Gewicht von 328 Kilo hinzugefügt. Leider wurde alle drei Glocken 1917 während des Ersten Weltkrieg eingeschmolzen, um Metall für Kanonen zu gewinnen. Sie wurden danach zwar 1923 wieder durch neue Glocken ersetzt, aber die wurden 1942 von der deutschen Wehrmacht konfisziert. In den unmittelbaren Nachkriegswirren und schon gar nicht unter den Kommunisten, die 1948 die Macht ergriffen, wurden die Glocken nicht erneuert. In den 1960er Jahren improvisierte man sogar mit Glockentönen, die man per Tonband irgendwo aufgenommen hatte, und die man dann per Lautsprecher verbreitete. Aber auch diese, für die Zeit des Kommunismus geradezu charakteristische Episode ging vorbei. Fünf Jahre nach dem Ende des Kommunismus, im Jahr 1994 wurden neue Glocken eingeweiht.

Und damit kommt man zu der eigentlichen Attraktion des Ortes, den neuen Kreuzweg (Křížová cesta). Dieser Kreuzweg (manchmal auch Passionsweg genannt) wurde erst 2015 errichtet und eingeweiht. Der Künstler, der Bildhauer Miroslav Beščec, wollte einen modernen Kreuzweg des 21. Jahrhunderts kreieren.

Es handelt sich – wie es mit wenigen Ausnahmen üblich ist – um einen Kreuzweg mit den 14 Stationen des Leiden Christi. Dafür wurden 14 grob in Kreuzform gehauene und rund 100 Kilogramm schwere Granit-Steine tief in den Boden eingelassen, so dass sie rund 60 Zentimeter herausragen. Jeder der Steine wurde von einem Gemeindemitglied als Stifter gespendet, d.h. bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung gekauft. Der Künstler selbst kaufte den ersten Stein für die Gemeinde. Stanisław Góra, der Vorsitzende der Caritas der Prager Erzdiözese (Arcidiecézní charita Praha) nahm am Ende im Oktober 2015 die Einweihung des Kreuzwegs vor. Gleichzeitig wurde auch die frisch instand gesetzte Parkanlage um den Glockenturm eingeweiht.

Der Bildhauer orientierte sich zwar an dem vorgeschriebenen Kanon der einzelnen 14 Stationen der Passion, wollte sie aber in eine moderne Bildsprache übersetzen, die den tieferen Gehalt der jeweiligen Ereignisse erläutern. Vier Beispiele seien hier gezeigt:

Von links nach rechts: (1) Die zweite Station; Jesus nimmt das Kreuz. DIe Hand soll dabei die Akzeptanz des Schicksal bedeuten, (2) die fünfte Station; Simon von Cyrene trägt das Kreuz Christi, die umarmenden Hände stellen den Gedanken der Nächstenliebe dahinter in den Mittelpunkt, (3) die zwölfte Station; Jesus stirbt am Kreuz, zweifellos die konventionellste Darstellung, (4) die dreizehnte Station, die eigentlich darstellen soll, wie Jesus vom Kreuz genommen wird, was sich in Beščecs Darstellung aber in Form der Darstellung des Kreuzes als Symbol einer Heilserwartung mit konzentrischen Lichtstrahlen zeigt.

Die sich nicht unbedingt selbst erklärenden Symbolbilder auf den Kreuzen werden nicht unmittelbar an „am Ort“ erläutert, aber am Eingang des Parkes gibt es eine große Tafel (Bild links), die nicht nur die Entstehungsgeschichte des Kreuzwegs, sondern auch jede einzelne Station und ihre künstlerische Bedeutung beleuchtet. Damit rundet sich sich jeder Ausflug zu dem kleinen Kirchenareal von Modřany, mit dem kleinen Gotteshaus, dem Friedhof, dem Glockenturm und vor allem dem Kreuzweg gelungen ab. Man bedauert es nicht, hierhin einen Ausflug gemacht zu haben. (DD)