Viel Mut im Exil

Als die Nazis im Januar 1933 die Macht übernahmen, begann damit die Demontage der Weimarer Republik und die Errichtung einer totalitären Diktatur. Der wichtigste der ersten Schritte war das Ermächtigungsgesetz, durch das sich Hitler im März vom Reichstag diktatorische Vollmachten übertragen ließ. Nur die 94 Abgeordneten der SPD stimmten gegen das Gesetz. Es war absehbar, dass die Nazis danach die Partei zerschlagen würden. Im Juni folgte das Verbot der Partei. Vorausschauend baute sich deshalb die Partei schon im Mai – also vor 90 Jahren! – einen Exilvorstand auf, die SoPaDe (Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Und die hatte ihren Sitz in Prag.

Von allen Demokratien, die sich in Europa nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatten, hatte nur die Erste Tschechoslowakische Republik überlebt. Alle anderen – etwa Polen, Ungarn, Rumänien und ab 1933 eben auch Deutschland – waren zu Scheindemokratien oder gar offenen Diktaturen mutiert. Die Tschechoslowakei wurde zum Fluchtort für die Verfolgten Europas. Die SoPaDe erwarb Büros in einem großen Wohngebäude in der Křižíkova 179/26 (Ecke Karlínské náměstí) im Stadtteil Karlín. Von hier aus sollte sie mehrere politische Aufgaben erledigen. Dazu gehörte der Schutz besonders gefährdeter Politiker, etwa Otto Wels, der mutig im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz gesprochen hatte. Aber auch die Rettung und Verwaltung zumindest von Teilen des Parteivermögens, die Sicherung der verbliebenen Organisationsstruktur, den Kontakt zur in Deutschland noch bis 1934 agierenden „illegalen Reichsleitung“ der Partei, die Entwicklung für den demokratischen Aufbau nach dem erwünschten Ende des Nationalsozialismus, die Herausgabe der Parteizeitschrift Vorwärts (als Neuer Vorwärts), die Kooperation mit anderen demokratischen Exilorganisationen. Bei letzterem hielt man bewusst, aber nicht unumstritten Distanz zu den Kommunisten, sondern suchte eher Kontakt zu bürgerlichen Gruppen. Zu der organisatorischen Struktur, die die rund 25 Mitarbeiter im Haus in der Křižíkova aufbauten, gehörten die sogenannten Grenzsekretariate, die die Verbindung zu Untergrundgruppen in Deutschland aufrechterhielten und Literatur und andere Werbemittel einschmuggelten. Zudem sammelten sie Informationen, die für die Veröffentlichung der Deutschland-Berichte verwendet wurden, durch die sich die SoPaDe ein Bild der Lage in Deutschland verschaffen wollten.

Als Anfang 1939 Hitlers Truppen in Prag einmarschierten, war die SoPaDe noch rechtzeitig geflohen, um in Paris ein neues Büro einzurichten. Das konnte nur bis zum Einmarsch der Wehrmacht 1940 arbeiten. Die nächste Station war London, aber dort waren die Möglichkeiten (z.B. naturgemäß keine Grenzbüros) so beschränkt, dass die Arbeit bald zum Erliegen kam. In Prag findet man immerhin ein wenig Gedenken an dieüberaus viel Mut erfordernde Tätigkeit der SoPaDe. Am 15. Mai 1990 hielt der frühere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der die damalige Zeit im norwegischen Exil verbracht hatte, eine Grundsatzrede über Entwicklungspolitik an der Prager Karlsuniversität. Tags zuvor nutzte er die Gelegenheit, dem Haus in der Křižíkova einen Besuch abzustatten und dort eine sehr schlichte metallene Gedenktafel in Tschechisch und Deutsch einzuweihen, die an die SoPaDe und ihr Wirken in Prag erinnert: „Hier arbeitete der Exilvorstand der deutschen Sozialdemokraten in den Jahren 1933 bis 1938.“ (DD)

PS: Am heutigen Tag findet in Prag übrigens eine Gedenkveranstaltung zum 90. Jahrestag der Gründung der SoPaDe statt, die u.a. von der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert wird.

Kafkas Wohnung und amerikanische Botschaft

Monarchie und Republik in seltener Eintracht: Die Flagge der USA unter dem Wappenlöwen des Königreiches Böhmen samt Krone obendrauf! Dieser Widerspruch, mit dem man hier offensichtlich gut leben kann, ist der Preis dafür, wenn man sich in Prag für eine wichtige Botschaft ein angemessenes Gebäude sucht.

Denn bei der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Prag handelt es sich um den bedeutenden Schönborn Palast (Schönbornský Palác) in der Tržiště 365/15 auf der Kleinseite. Der Palast, der zu den größeren der an Palästen reichen Umgebung gehört, wurde um 1643 bis 1653 für Rudolf Hieronymus Eusebius Reichsgraf von Colloredo-Waldsee gebaut, und zwar durch den eher als Festungsbauer bekannten Architekten Giovanni Pieroni da Galiano. Der Graf hatte 1648 sich als kaiserlicher Gouverneur von Prag um die Verteidigung der Stadt bei der Belagerung Prags durch die Schweden im Dreissigjährigen Krieg verdient gemacht.

Auf dem Grundstück hatten sich zuvor fünf größere Renaissance-Häuser (von denen man bei einer Renovierung 2000/2001 etliche Fragmente fand) befunden. Das erklärt gleichermaßen, warum der neue Palast so groß angelegt werden konnte, und warum der Grundriss des Gebäudes so unregelmäßig ist. Das alles kann man übrigens sehr schön vom Petřín-Berg aus sehen, an dessen Hang sich das Grundstück befindet. Auch erkennt man das große ummauerte Gartengelände, das sich auf dem Areal eines ehemaligen Weinberg befindet.

Ein Nachfahre von Reichsgraf Rudolf, Hieronymus Graf von Colloredo-Waldsee, ließ in den Jahren 1715 bis 1718 den Palast modernisieren und umbauen. Er heuerte dafür mit Giovanni Battista Alliprandi und Johann Blasius Santini-Aichl zwei der bedeutendsten Architekten des Hochbarock an. Das (heute leider nicht zugängliche) Innere wurde durch reiche Stuckaturen, die teilweise noch existieren, ausgeschmückt, und die Fassade zur Straße bekam jene prachtvolle Ausstattung, die wir heute bewundern können. Der palast wechselt bald darauf in schneller Folge die Besitzer, bis er im Jahre 1794 zum Eigentum der Adelsfamile Schönborn wurde, wodurch er seinen heutigen Namen erhielt. Der Erhalt eines so großen Palastes verschlingt bekanntlich viel Geld. Im Jahre 1910 beschloss die Familie, dass man zum Erhalt auch Geld verdienen müsse, und deshalb ein Großteil der Räume als Wohnraum vermietet werden solle.

Dadurch wurde das Wohnen im Palast auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel erschwinglich. Und genau deshalb kann sich der Palast heute rühmen, dass kein Geringerer als der Schriftsteller Franz Kafka hier eine zeitlang lebte. Der fand ja normalerweise die meisten Orte, in denen er wohnte, deprimierend. Aber hier geriet er in ungewöhnlicher Weise ins Schwelgen. So schrieb er 1917 in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer: „Ich betrat die Immobilienagentur, wo man mir fast sofort von einer Wohnung in einem der schönsten Paläste erzählte. Zwei Zimmer, ein Flur, von dem die eine Hälfte zu einem Badezimmer umgebaut wurde. Sechshundert Kronen im Jahr. Es war wie ein wahr gewordener Traum. Ich bin dort hingegangen. Zimmer groß und schön, rot und gold, fast wie in Versailles. Vier Fenster zu einem ruhigen, versteckten Innenhof, ein Fenster zum Garten. Was für Gärten!“ Aber am Ende erwies sich Ort doch nicht als ein echtes Glücksomen. Hier, in den ungeheizten Räumen, bekam er erstmals einen Blutsturz, der den Beginn einer schweren (und damals unheilbaren) Tuberkulose markierte. Nach kurzer Zeit zog er wieder aus und verbrachte danach die meiste Zeit in Sanatorien. Zu allem Überdruß zog er sich im Herbst 1918 die Spanischen Grippe zu. 1924 starb er in einem österreichischen Sanatorium.

Aber: Der kurze Aufenthalt hier macht seither den Palast zu einem der Pilgerorte, die zu sehen kein Kafka-Verehrer verabsäumen darf. Schon zwei Jahre nach dem Aufenthalt Kafkas im Palast verkaufte im Jahr 1919 Karl Johann Graf von Schönborn Palast und Anwesen an den amerikanischen Millionärssohn Richard Teller Crane, der zu dieser Zeit zum ersten US-Botschafter in der neu gegründeten Tschechoslowakei wurde.

Seine Zeit als Botschafter endete 1921 und 1924 bot er der US-Regierung den Palast als Gebäude für eine repräsentative Botschaft und Botschafter-Residenz zugleich an. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude nominell von der neutralen Schweiz verwaltet, aber 1945 kehrte mit Laurence Adolph Steinhardt wieder ein US-Botschafter ein (dem man später vorwarf, diplomatisch zu wenig gegen die kommunistische Machtergreifung 1948 getan zu haben). Der beschloss eine Trennung von Botschaft und Residenz. Für letzteren Zweck ließ er weiter außerhalb 1948 die Villa Otto Petschek (Vila Otto Petschka) kaufen, die seither Residenz ist. Der Schönborn Palast blieb – auch in kommunistischen Zeiten – Botschaft; bis heute. Ein Kuriosum: Während die Stadt Prag es verabsäumt, an den meisten Häusern (mit Ausnahme des Geburtshauses), in denen Kafka gelebt hat, eine Gedenkplakette anzubringen, hat am Schönborn Palast die US-Botschaft auf eigene Initiative (man sieht es am amerikanischen Amtssiegel) eine solche an der Wand zur Straße befestigt!

Die US-Flagge blieb in den finsteren Zeiten des roten Terrors ein Freiheitssymbol für viele Bürger der Tschechoslowakei. Um sie weithin sichtbar wehen zu lassen, hisste die Botschaft sie (und tut es bis heute) auf der sogenannten Gloriette. Dieser Gartenpavillon gehörte von Anfang an zum Palast und wurde daher auch nach den Plänen von Giovanni Pieroni da Galiano erbaut. Die Flagge auf dem Bauwerk an der Außenmauer des Grundstücks ist weithin über die riesige Parkanlage am Petřín-Berg. Da sie ja unter diplomatischem Schutz stand, mussten die Regierenden tolerieren, dass die Untertanen sich hier an einem Freiheitssymbol delektieren konnten.

Die Freiheit kam 1989 mit dem Ende des Kommunismus. Dafür wurden die Botschaft und ihr Gebäude immer mehr in ihrer Freiheit beschränkt. Da US-Botschaften leider oft das Ziel terroristischer Angriffe sind, ist es nicht möglich, das Innere im Rahmen einer Führung zu besichtigen. Die Botschaft bedauert das zutiefst. Gerade die Kafka-Zimmer wären sicher eine beliebte Destination für Besucher. Und vor der Botschaft wird die Straße Tržiště ständig bewacht. Es gibt ausfahrbare Poller und jedes Auto, das das Gebäude passieren will, wird von Polizisten kontrolliert.So geht der Öffentlichkeit ein kulturelles Juwel verloren. Hoffen wir, dass irgendwann bessere Zeiten kommen. (DD)

Publizist am Waldrand

Dort, wo man einen Staatsmann und Publizisten dieses historischen Formats nicht erwartet, steht er plötzlich vor einem, nicht real, aber als Büste auf einem Sockel: Julius Grégr.

Am Rande des Naturschutzgebietes Máslovická stráň, dort wo die kleine Fähre von Libčice keine fünf Kilometer nördlich der Prager Stadtgrenze am Ostufer der Moldau landet, steht er im Grünen am Wegesrand. Nun, bevor wir klären, warum er hier so mitten in Natur und Landschaft unterhalb der kleinen Ortschaft Máslovice steht, muss man vielleicht erst einmal erklären, wer denn Julius Grégr überhaupt war. Grégr gehörte 1874 zu den Gründern der Partei der Jungtschechen (Mladočeši), die auch Freisinnige Nationalpartei (Národní strana svobodomyslná) genannt wurde. Die setzte sich im Sinne eines liberalen Nationalismus für mehr Selbstbestimmung der Tschechen innerhalb des Habsburgerreichs ein. Mehrfach saß er für die Partei im Böhmischen Landtag und im Kaiserlichen Rat, wo er mit den damaligen Autoritäten ständig aneckte. Der angriffige und oft antiklerikale Standpunkt, den Grégr formulierte, brachte den Jungtschechen bei der Landtagswahl 1889 die dominierende Position ein.

Das schaffte Grégr vor allem, weil er im Lande eine publizistische Meinungsmacht innehatte, die damals ihresgleichen suchte. Schon 1861 hatte er die Tageszeitung Národní listy (Volksblätter) gegründet, die bald zum politischen Sprachrohr aller progressiven Tschechen wurde. Nirgendwo sonst im Habsburgerreich wurde so offen publizistisch für die demokratischen und bürgerlichen Rechte der Gekämpft. Mit der Fusion mit der Zeitung Hlas (Die Stimme), die noch aus der Zeit der Revolution von 1848 stammte (auf die sich Grégr gerne berief), verstärkte Národní listy noch einmal ihr Gewicht als einflussreichste Zeitung in Böhmen. Seine Rolle als Publizist wird hier in Máslovice übrigens noch einmal direkt neben der Büste durch die Holzschnitzereien auf einer Sitzbank gefeiert.

Hier an diesem Ort Julius Grégr mit der Büste, der Bank und einer Infotafel (Bild links) zu zelebrieren war die Idee von Máslovices Bürgermeisterin Vladimíra Sýkorová im Jahre 2015. Besonders die Sache mit der Büste war nicht leicht. Eine ebensolche befand sich im Besitz von Nachfahren Grégrs in dessen altem Haus in Prag Smíchov. Es wurde die Bildhauerin Radana Čablová angeheuert, um eine Kopie herzustellen. Die nicht unerheblichen Kosten, die Skulptur in das Studio der Bildhauerin hin und zurück zu transportieren, übernahm dann die Gemeinde Máslovice. Im März 2019 war es soweit und die feierlich Einweihung konnte mit viel Prominenz, Nachfahren Grégrs und Bürgern Máslovices stattfinden.

So begrüßt einen Grégr heute freundlich auf dem Weg durch das Naturschutzgebiet, möglicherweise Richtung der etwas oberhalb gelegenen Ortschaft Máslovice, wo man ein Buttermuseum besuchen kann, worüber wir bereits berichteten. Aber warum hier am Ufer der Moldau bei der Fähre nach Máslovice? Natürlich, weil er mit dem Ort eng verbunden war.

Im Jahr 1893 hatte Grégr hier eine alte Mühle gekauft und zu einer Villa umgebaut, in der er sich zurückziehen konnte. Seine Gesundheit hatte abgenommen – er starb 1896 – und auch politisch war er zunehmend isoliert. Die radikale Oppositionspolitik gegen das Habsburgregime hatte in eine Sackgasse geführt. Jüngere Politiker wie Václav Škarda hatten 1894 bei einem Treffen die Jungtschechen mit der Resolution von Nymburk einen Kurs der Mäßigung eingeschlagen. Das erbrachte sichtbare Folgen, etwa als der Jungtscheche Josef Kaizl 1898 Finanzminister wurde (was vor ihm keine Tscheche geschafft hatte). Ein Zeichen, dass neue Zeiten angebrochen waren, war schon 1893 als Grégr mit dem jungen Tomáš Masaryk brach, der bald die Realistische Partei gründen sollte und 1918 das Land als Präsident in die Unabhängigkeit führte.

Und so führte der gesundheitlich angeschlagene Grégr auch aus politischen Gründen hier im grünen Máslovice ein zurückgezogenes Leben. Seine Zeitung bestand noch bis 1941 (lange nach seinem Tod), als sie von den Nazis verboten wurde. Die Villa, in der Grégr wohnte, hat in den 1970er Jahren einen etwas unschönen Anbau bekommen und dient heute als Forschungsinstitut für Bienenzucht (Výzkumný ústav včelařský). Sieht man den kleinen Weinberg vor der alten VIlla, kann man nachvollziehen, warum sich Grégr diesen Ort für den Ruhestand aussuchte. (DD)

Der Balkon der Samtenen Revolution

Der gemeinsame Auftritt der beiden am 23. November 1989 – heute vor 33 Jahren! – auf diesem Balkon gab den Menschen endgültig die Hoffnung, dass der Spuk des Kommunismus bald vorbei sein werde. Als der Schriftsteller Václav Havel, die weltweit bekannte Symbolfigur des Widerstandes, und Alexander Dubček, der 1968 gestürzte Architekt des Prager Frühlings, vor der Menge erschienen, brach riesiger Jubel aus.

300.000 Menschen hatten sich hier auf dem Wenzelplatz zu einer gigantischen Demonstration gegen das Regime versammelt. Es war die erste Demonstration des neuen Oppositionsbündnisses Bürgerforum (Občanské fórum), das sich am 19. November gegründet hatte, und das schon am 26. November Gespräche mit der kommunistischen Regierung führen sollte, um deren Machtmonopol zu brechen. Es war alles ganz schnell gegangen. Am 17. November 1989 hatte die erste große Studentendemonstration stattgefunden, die gemeinhin als Beginn der Samtenen Revolution gilt. Die Demonstration wurde zwar von der Polizei niedergeprügelt, aber die Demonstration gingen weiter und wurden größer und größer.

Von allen Demonstrationen der Samtenen Revolution sollte die am 23. November die größte Strahlkraft haben. Es war ein wahres Riesenaufgebot von Prominenten aus Kultur und Politik, die hier auf dem Balkon des Hauses am Václavské náměstí 793/36 der Menge zeigten, dass sie sich vom Regime in Protest abgewendet hatten. Zu den ersten Rednern gehörte Rudolf Hrušínský, der populäre Schauspieler und Švejk-Darsteller (der bald darauf als einer der ersten demokratischen Parlamentsabgeordneten gewählt wurde). Die Menge sang begeistert mit, als die Sängerin Marta Kubišová ihr berühmtes Lied Modlitba pro Martu sang, das so etwas wie die Hymne des Prager Frühlings gewesen war. Kubišová hatte zu den Erstunterzeichnern der Charta 77 gehört und war danach ungeheueren Repressalien des Staates ausgesetzt. Auch der Schlagerstar Karel Gott trat auf den Balkon. Er hatte sich zwar immer recht systemtreu verhalten und sogar für das Regime eine Anti-Charta zur Charta 77 unterzeichnet. Jetzt sang er unter dem Jubel der Menge die Nationalhymne, und zwar ausgerechnet im Duet mit dem Protestsänger Karel Kryl, der 1968 nach dem Ende des Prager Frühlings aus dem Land hatte fliehen musste. Aber vielleicht war gerade dies das Signal, dass es mit dem Regime zu Ende ging, dass auch angepasstere Prominente wie Gott nun aus der Deckung kamen.

Aber es war vor allem die Rede von Alexander Dubček, die der Revolution zusätzliche Legitimation verschaffte. Er war der Zeitzeuge dafür, dass das System seine Versprechen brach und gab dem Umsturz quasi seinen Segen (weshalb er bald demokratisch gewählter Parlamentspräsident wurde). Und dann kam Havel. Der hartnäckige Dissident und Einiger der Opposition und ihr glaubwürdiger Repräsentant. Aber Havel hatte ja bis dato nur im Untergrund gewirkt, und so wurde dies seine erste große öffentliche Rede. Er meisterte die Herausforderung brillant. Seine Forderungen nach Freiheit und Demokratie stießen auf Begeisterung. Die Menge rief immer wieder „Havel na hrad“ – Havel auf die Burg, also in den Präsidentenpalast. Und Präsident war er dann bald tatsächlich. Am 29. Dezember wählte ihn die Föderalversammlung derTschechoslowakei in das Präsidentenamt. Dass für den Auftritt am 23. November ausgerechnet der Balkon dieses Gebäudes ausgewählt wurde, mag kein Zufall gewesen sein, denn auch ohne die Samtene Revolution wäre es ein bedeutender Teil der politischen Geschichte des Landes.

Das fünfstöckige Büro- und Geschäftsgebäude wurde von 1911 bis 1913 nach den Plänen des bekannten Architekten Bedřich Bendelmayer als Palác Hvězda (Stern-Palast) gebaut (wir erwähnten ihn u.a. bereits hier und hier). Es handelt sich um ein Meisterwerk des späten geometrischen Jugendstils. Die steinernen Skulpturen (insbesondere die, die den Balkon tragen) und vor allem die farbigkräftigen Glasmosaike mit symbolistischen Darstellungen stammen von dem Bildhauer, Illustrator und Maler Vratislav Mayer.

Das Gebäude schrieb schon kurz nach Fertigstellung ein Stück tschechischer Demokratie-geschichte als hier 1913 der 1897 als Genossenschaft gegründete Verlag Melantrich (Nakladatelství Melantrich) einzog. Dieser Verlag war nach Georg Melantrich von Aventin (eigentlich: Jiří Černý Rožďalovický) benannt, einem Pionier des Druckwesens in Böhmen im 16. Jahrhunderts. Der Verlag stand der National-Sozialen Partei (Česká strana národně sociální) nahe, die nach der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei 1918 als zentristische Partei mithin die staatstragende Gruppierung der Republik war und mit Tomáš Garrigue Masaryk den Präsidenten stellte. Wichtigstes (aber nicht einziges) Produkt des Verlages war die 1907 ins Leben gerufene Tageszeitung České slovo (Tschechisches Wort), die großen Zeitungen des Landes gehörte. Das Erscheinen der Zeitung wurde nur kurz während des Ersen Weltkriegs unterbrochen. Selbst unter der Nazi-Herrschaft erschien sie weiter, wenngleich weitgehend zensiert.

Als die Republik 1945 wiedergegründet wurde, änderte man den Namen in Svobodné slovo (Freies Wort). Von Anfang an bekämpfte das Blatt den Vormarsch der Kommunisten. Selbst als die Kommunisten im Februar 1948 die Macht ergriffen hatten, setzte sie noch kurz ihren Widerstand fort – bis einige Tage darauf die Produktion für zwei Tage eingestellt wurde. Danach stand sie unter neuer und regimetreuer Leitung und blieb es auch. Aber: Ein wenig vom alten republikanischen Geist hatte wohl in den Redaktionszimmern überlebt….

Denn als am 17. November 1989 die erste Demonstration der Samtenen Revolution von der Polizei niedergeschlagen wurde, war Svobodné Slovo die erste große Zeitung des Landes, die die Polizeiaktion scharf verurteilte und sich auf die Seite der Revolution stellte. Sie publizierte Manifeste der Demonstranten und die Redaktionsräume wurden zu Treffpunkten der Dissidenten. Und dann war da noch der Balkon, der mithin die beste Rednerbühne am Wenzelplatz bot. Und deshalb wurde der Balkon auch zu dem zentralen Ort der Revolution, auf dem Václav Havel seine erste große Rede hielt.

Für die Zeitung und den Verlag selbst war die Samtene Revolution allerdings kein Segen. Sie wurden privatisiert, indem man sie an den Investor Chemapol verkaufte, der die Teitung 1997 in Slovo (Das Wort) umtaufte. Chemapol geriet 1998 in die Krise geriet und stieß das Blatt an die Herausgeber der (2001 ebenfalls bankrott gegangenen) Zeitung Zemské noviny (Landeszeitung) ab, der Slovo aber nicht halten konnte und kurz darauf die Produktion einstellte. Das Verlagsgebäude des Palác Hvězda wurde 1999 versteigert. Heute residiert hier im hinteren Gebäudeteil eine große Filiale eines britischen Mode- und Lebensmittelgeschäfts. Zur Frontseite hat sich ein Hotel angesiedelt. Bucht man dort Zimmer 203, kann man anscheinend den Balkon, der so viel Geschichte schrieb, betreten. Bedauerlich ist, dass sich am Haus selbst nirgendwo eine Gedenkplakette befindet. Das sollte man möglichst bald ändern. (DD)

Havel: Die Sechste Kopie

Zum heutigen Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie: Es war eine Meldung, die am 17. November 2021, also genau vor einem Jahr, hohe mediale Wellen schlug: Die Enthüllung einer Büste Václav Havels im berühmten Café Slavia (Kavárna Slavia). Und das, obwohl es sich um eine Kopie handelte. Oder vielleicht machte gerade das den Reiz des Ganzen aus?

Das am noblen Smetanovo nábřeží 1012/2 (Smetana Ufer) gelegene Café Slavia, über das wir bereits hier berichtet haben, war in den 1980er Jahren ein Treffpunkt von Dissidenten und Kulturschaffenden (zwei Gruppen, die sich damals stark überlappten), in dem auch Václav Havel gerne verkehrte. Hier, in diesem günstig nahe beim Nationaltheater und dem avantgardistischen Nová scéna, mit dem er besonders verbunden war, fand er Gleichgesinnte, die der grauen Diktatur der Kommunisten überdrüssig waren, und mehr Freiheit einforderten. Außerdem traf er hier Anfang der 1960er Jahre angeblich seine spätere erste Frau Olga (+1996), die er unter anderem in seinen berühmten Briefen an Olga (Dopisy Olze) aus dem Gefängnis verewigte. Und, last but not least, hier zogen 1989, am 17. November, heute ein Staatsfeiertag, die Demonstranten vorbei, die damit den Beginn der Samtenen Revolution einläuteten. Und schon am 29. Dezember sollte Havel – der Schriftsteller, Dissident, Initiator der Charta 77 und Symbol des Widerstands – der erste nicht-kommunistische Präsident des Landes werden.

Ort und Zeit stimmten also: Das Slavia als der Ort und der 17. November 2021 als der geeignete Jahrestag. Zur Einweihung kamen auch noch Havels zweite Frau und Witwe Dagmar Havlová sowie etliche alte Mitstreiter Havels aus der Dissidentenszene und etliche aktuelle Politikgrößen. Veranstaltet wurde die Enthüllung von der Akademie der Bildenden Künste Prag, der Václav Havel Bibliothek und der tschechischen Sektion von Amnesty International organisiert. Die Büste selbst ist ein Werk der bekannten und preisgekönten Bildhauerin Marie Šeborová. Aber: Im Slavia steht eine Kopie des Originals. Gerade das ist der Witz an der Sache. Die ganze Welt mit Büsten von Havel zu bereichern, das ist seit etlichen Jahren der Plan von Bill Shipsey. Der ist für die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International Chef Initiative Art for Amnesty, die durch die Einbindung und Förderung von Künstlern und Kulturschaffenden für die Sache kultureller Freiheit kämpft. Und für ihn steht fest, dass es kaum je eine Person von solcher Strahlkraft im Dienste der Sache gegeben hat wie Václav Havel.

Und deshalb bemüht er sich seit einigen Jahren rund um die Welt Šeborovás Büste Havels in den Gebäuden wichtiger Institutione naufzustellen. 2015 waren das je eine im irischen Parlament in Dublin und in der Tlatelolco Universität in Mexiko City, 2016 in der Universität von Manitoba in Kanada, 2017 im Europäischen Parlament in Straßburg (wo zugleich das Gebäude, in dem sie nun steht, nach Havel benannt wurde) und 2018 in der Columbia University in New York. Jetzt war endlich Prag und das Café Slavia dran, weil, so Shipsey: „Ich erinnere mich, dass nach der Samtenen Revolution 1989 der Slogan lautete: Havel na hrad – Havel zur Burg. Und ich dachte, jetzt hätten wir vielleicht Havel do kavárny – Havel zum Café.“

Prag war die sechste Kopie, aber eine will Shipsey noch aufstellen lassen. Schon hat Bildhauerin gewarnt, dass die Gussform irgendwann die Belastungen nicht mehr aushalte und kaputtgehen werde. Deshalb wird jetzt nur noch ein Ort ins Auge gefasst. Die Samtene Revolution passierte 1989 schließlich noch in der alten Tschechoslowakei. Und die Slowaken hatten auch ihren gewichtigen Anteil am Erfolg der Samtenen Revolution von 1989. Jetzt sucht man nach einem geeigneten Platz in Bratislava. Ob man da ebenfalls so etwas wie das Café Slavia finden wird? Schließlich, so erinnerte Havels Witwe Dagmar bei der Enthüllung der Büste, sei Václav Havel immer sehr gerne ins Café gegangen. (DD)

Partizipatives Denkmal für Václav Havel

So wie Václav Havel, der heute 86 Jahre alt geworden wäre, stets die Provokation liebte, so löst auch der nach ihm benannte Václav Havel Platz (Náměstí Václava Havla) in der Neustadt ab und an Kontroversen aus. Ist er zu klein, zu realsozialistisch und ist das Denkmal Kitsch? Vielleicht ist das der Grund, warum er eigentlich recht gut zum Andenken an Havel passt…

Früher war das hier ein Teil der Piazzetta des Národni divadlo (Nationaltheater), über das wir hier berichteten. Die Dinge änderten sich als in den Jahren 1977 bis 1983 daneben nach Entwürfen des Architekten Karel Prager das grandios brutalistische Gebäude der Nová scéna (Neue Szene) erbaut wurde, über das wir hier berichteten. Der Alte Platz wurde dadurch zu einer Art Innenhof, der auf drei Seiten von dem neuen Gebäude umrahmt, das zwar durchaus künstlerisch originell war, aber doch arg nach realsozialistischer Architektur der Zeit aussah.

Zum Abschluss stellte man 1983 noch die große, auf einem Marmorsockel schwebende Statue Die Wiedergeburt (Znovuzrození) auf dem Platz auf. Sie war ein Werk des überaus regimetreuen Bildhauers Josef Malejovský, der unter den Kommunisten zum Nationalkünstler und mehrfachen Träger des Klement Gottwald Staatspreises erhoben wurde, und der dem Regime zwischen 1976 und 1986 als Parlamentsabgeordneter diente. Er war ein typischer Verfechter der Normalisierung, wie man das reaktionäre Zurückschrauben der liberalisierenden Reformen des Prager Frühlings unter dem Regime von Gustáv Husák nach 1968 nannte.

Man kann also verstehen, warum manch Beobachter ein wenig perplex war, als im September 2016 die Stadtregierung dem Ansinnen des Direktors des Nationaltheaters (zu dem die Nová Scená auch gehört), Jan Burian, Rechnung getragen wurde, und ausgerechnet dieser Platz nach Václav Havel benannt wurde.

Es eilte auch: Denn es stand der 80. Jahrestag der Geburt Havels, der fünf Jahre zuvor verstorben war, an und man wollte das Ereignis mit einer Platzbenennung und einer Denkmalseinweihung feiern. An 4. Oktober 2016 – ein Tag vor dem Geburtstag – wurde dem Platz der Name des großen Schriftstellers, Dissidenten und Präsidenten Václav Havel gegeben. Nun ja, da erinnerten sich auch viele Menschen daran, dass gerade das Nová Scéna ein Hort des Dissidententums war und viele Schauspieler dort mit Havel sich trafen und die Samtene Revolution vorangetrieben hatten.

Bei der Feier, an der (neben vielen anderen) Havels Witwe Dagmar Havlová, der damalige Kulturminister Daniel Herman und die damalige Bürgermeisterin Prags Adriana Krnáčová teilnahmen, wurde auch das Denkmal eingeweiht. Erschaffen wurde es von dem Bildhauer Kurt Gebauer, der sich als Kämpfer für die verbesserte kulturelle Ausgestaltung des öffentlichen Raums und als Provokateur in der Kunstszene einen Namen gemacht hatte. Unter einem in die Wand gravierten Autogramm Havels liegt ein run 160 hohes (aus Laminatguss angefertigtes) rotes Herz, um dass die Gitter drapiert sind, die es anscheinend einst eingefangen gehalten hatten, die aber nun gesprengt sind. Und dann leuchtet das Herz noch von innen, wenn es dunkel wird, wie man im großen Bild oben sehen kann. Großartig! Das ist eine so dick aufgetragene Allegoriesprache (Liebe/Freiheit), dass man zurecht ein wenig Ironie und Provokation dahinter vermuten kann.

Beim näheren Hinschauen ist das Ganze auch recht clever gedacht. Die Herzsymbolik passt zu einem Staatsmann, der (zumindest posthum) wirklich die Liebe der Menschen als Hoffnungsbringer gewonnen hat. Eigentlich liegen immer vor dem Denkmal Blumen oder Kerzen zu seinem Gedenken. An Feiertagen (hier kurz nach dem 10. Todestag 2021) ist das ganze Umfeld geradezu überschwemmt davon.

Besser als mit einem Herz kann man diese Zuneigung kaum ausdrücken. Zudem enthält das ganze auch ein partizipatives Element. Es wurden nämlich innerhalb von drei Tagen Botschaften gesammelt, die Menschen – darunter viele normale Bürger – an und über Václav Havel geschrieben hatten. Die wurden in das Herz eingraviert und wirken sehr authentisch wie spontane Graffiti (Bild oberhalb rechts). Oder, wie der Kurt Gebauer mit Blick auf Havel es damals sagte: „Was uns stört, was uns gefällt, was Havel für uns bedeutet. Es wird möglich sein, auf ein weiches Herz zu schreiben und zu gravieren, und dann wird das Ergebnis in ein rotes Laminat gegossen, das im Dunkeln leuchtet. Es wird uns daran erinnern, dass es notwendig ist, dass jemand mit einem großen Herzen hier und da kommt.“

Die ersten Menschen, die sich dabei auf dem Herzen verewigen durften, waren allerdings Havels Witwe Dagmar und die Schauspielerin Vlasta Chramostová, die als eine der Erstunterzeichnerinnen der berühmten Charta 77 zu den frühen und aktiven Mitstreiterinnen Havels als Dissident gegen das kommunistische Regime gehörte. Das Ganze ist schon anrührend. (DD)

Gedenken an den Matrosenaufstand

Bisweilen wird Shakespeares Satz, Böhmen sei ein Land an der Küste (Wintermärchen, Akt 3, Szene 3), in Zweifel gezogen, worüber ich mich bereits hier ausgelassen habe. Denn, sollte er sich geirrt haben, wieso gibt es dann in Prag ein Denkmal der Opfer des Matrosenrates (Pamětní deska Obětem z řad námořníků), das explizit tschechischer Seeleute gedenkt?

Scherz beiseite, denn hinter dem Denkmal auf dem großen Olšany Friedhof verbirgt sich eine tragische und erschütternde Episode aus der Endphase des Ersten Weltkrieges. Böhmen lag auch damals zwar tatsächlich nicht am Meer, gehörte aber zum Habsburgerreich, das über eine lange Meeresküste an der Adria verfügte. Dort hatte auch die durchaus nicht unbeträchtliche Österreichische Marine ihre Stützpunkte, von denen Pula der zentrale und größte war. Das bedeutete, dass auch zahlreiche tschechische Matrosen und Seeleute in der k.u.k. Kriegsmarine dienten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren rund 10,6% der Marineangehörigen aus Böhmen. Da Böhmen das bei weitem industrialisierteste und technisch fortgeschrittendste Land des Habsburgerreichs war, fand man Tschechen überproportional bei den technisch modernen Waffentypen, insbesondere bei der U-Bootflotte. Von den Kriegsgegnern im Mittelmeerraum hatte die Flotte kaum größere Gefahren seitens einer feindlichen Marine zu fürchten. Ein Großteil der Einsätze bestand auch der Beschießung feindlicher Hafenstädte und -befestigungen. Dort wurden zunehmend Wasserminen zur Gefahr für die Schiffe.

Die Marine hielt sich dabei wacker, aber als 1918 das Ende dies Kriegs sich nahte, wurde die Lage immer prekärer. Ein Sieg wurde immer unwahrscheinlicher. Es herrschte nicht nur Material- sondern auch Versorgungsmangel. Sowohl in der Armee als auch in der Zivilbevölkerung kam es immer wieder zu kleineren Protesten, Streiks und Unruhen. In der Marine versuchten die höheren Offiziere solchen Vorgängen durch die Verschärfung von Drill und Exerzieren vorab beizukommen. Petitionen von Mannschaften auf Milderung des Disziplinarregimes wurden brüsk zurückgewiesen. Das heizte eher die Stimmung unter den Mannschaften auf, die immer weniger den Sinn des Ganzen erkennen konnten, aber die Härte der Disziplinierung spürten.

Am 1. Februar 1918 war das Fass zum Überlaufen gekommen. Auf dem damaligen Flaggschiff der Flotte, dem Panzerkreuzer SMS St. Georg, das gerade in der Bucht von Kotor (heute Montenegro) lagerte, übernahm die Mannschaft das Kommando und setzte Kapitän, Offiziere und vor allem den Ranghöchsten an Bord, Konteradmiral Anton Alexander Ignaz Friedrich Hansa, unter Arrest. Es begann, der Matrosenaufstand von Cattaro (Kotor trug damals den italienischen Namen Cattaro). Unter dem Kommando des aus einer deutsch-tschechischen Familie stammenden František Rasch (manchmal auch Franz Rasch) bildete sich ein Matrosenrat, der Kontakt zu den anderen Schiffen der Flotte aufnahm. Rund 6000 Marineangehörige auf 40 Schiffen (bei weitem der größte Teil der österreichischen Marine) schlossen sich der Aktion umgehend an. Vor allem der Kroate Anton Grabar mit Rasch übernahm die ideologische Führung. Nachdem die Aufständischen fast die ganze Marine unter Kontrolle hatten, stellten sie ihre politischen Forderungen.

Die bestanden aus zwei Teilen. Obwohl die Aufständischen stark von sozialistischen Ideen geprägt waren und auf den Schiffen der k.u.k. Marine nun rote Fahnen wehten, waren die Forderungen durchaus moderat. Man wollte einfach Verbesserungen bei den Lebensbedingungen – Nahrung, Rauchtabak, keine sinnlosen Disziplinierungen. Das sprach naturgemäß die meisten Matrosen an, aber eben nicht alle. Die Besatzungen der wenigen Schiffe, die gerade im Kampfeinsatz waren, bekamen bessere Rationen als die, die schon seit Wochen im untätig im Hafen lagen. Und sie fühlten sich (menschlich verständlich) düpiert, dass die „Etappe“ meuterte, während sie gerade an der Front kämpften. Das sorgte dafür, dass es doch noch etliche Schiffe gab, die sich nur widerwillig unter Druck oder gar nicht dem Unternehmen anschlossen. Und dann waren da die politischen Forderungen: Die drehten sich um einen sofortigen Friedensschluss, wie er zwischen den Mittelmächten und Russland sich gerade abzuzeichnen begann. Das sollte auf Grundlage der 14 Punkte geschehen, die gerade im Januar der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verkündet hatte, und die vorsahen, dass es keinen Siegfrieden geben, dass die Demokratie ihren Siegeszug antreten, und dass allen Völkern das Selbstbestimmungsrecht zukommen solle. Gerade letzteres fand unter den Matrosen, die in der Mehrheit keine Deutsch-Österreicher waren, sondern Kroaten, Tschechen usw., viel Anklang. Für die österreichische Marineführung galt dergleichen jedoch Landesverrat und als subversive Forderung mit dem Ziel der Zerstörung der Doppelmonarchie.

Es mag sein, dass den Aufständischen nicht bewusst war, wie absolut unannehmbar die politischen Forderungen für die Marineführung waren. Naiverweise traute man dem Ehrenwort der Offiziere, die sich weiter frei auf den Schiffen bewegen konnten, sich selbst aber an kein Ehrenwort gegenüber „Meuterern“ gebunden fühlten. Konteradmiral Hansa beließ man sogar seinen Telegrafenapparat in der Kabine, was der dazu nutzte die loyalen Schiffe zu kontaktieren und mit dem Marinekommando in Kotor das weitere Vorgehen zu koordinieren. Inzwischen, am zweiten Tag des Matrosenaufstands, waren die Schiffe um die St. Georg mehr oder minder im Hafen eingeschlossen. Den Vorschlag mit Gewalt auszubrechen, lehnte Rasch ab, weil er hoffte, immer noch verhandeln zu können. Die Einbindung des Parlaments in Wien gehörte nun zu den zusätzlich aufgestellten Forderungen, weil es dort sozialdemokratische Sympathisanten gab. Es gab ersten Beschuss von der Hafenfestung. Deutsche U-Bootfahrer, die zuvor eingelaufen waren, boten der Marineführung an, bei der Niederschlagung zu helfen. Immer mehr, teilweise nur widerwillig in den Aufstand involvierte Schiffsmannschaften sprangen ab. Am dritten Tag liefen die ersten Kriegesschiffe in die äußere Bucht von Kotor ein, um ebenfalls bei einer möglichen Niederschlagung einzugreifen. Rasch fand auch bei der eigenen Mannschaft mehr genügend Unterstützung zur Weiterführung der Aktion. Er ließ die rote Fahne auf der St. Georg streichen und ergab sich Konteradmiral Hansa.

Am nächsten Tag folgte das grausame Blutgericht. Über 800 Matrosen wurden verhaftet, während der Hafenkommandant das Standrecht verhängte. 40 Angeklagte wurden vor das Standgericht gestellt, das am 7, Februar zusammentrat und bis zum 10. Februar den Fall erledigen sollte. Das Verfahren lief fehlerhaft und parteiisch ab. Der Zivilverteidiger der Angeklagten kam erst einen Tag vor dem Urteil am Ort an, und legten vergeblich Protest ein, das die Präklusivfrist überschritten worden sei und ein fairer Prozess unmöglich sei. Das ließ das Gericht nur für 18 Angeklagte gelten. Auch wurden etliche Zeugen nicht mehr gehört, weil das Gericht sich unter Zeitdruck befand. Am Ende wurden am 10. Februar die meisten Fälle vertagt, aber sechs Angeklagte drakonisch bestraft, zwei zu langen Zuchthausstafen und vier – Rasch, Gabar und zwei weitere – zum Tode verurteilt. Eine eilig von der Verteidigung verfasste Gnadenpetition an den Kaiser blieb unbeantwortet, schon weil sie zu spät kam. Denn das Urteil wurde schon am nächsten Morgen, dem 11. Februar, an der Friedhofmauer von Kotor vollstreckt. Zweimal gehorchten die Soldaten, die als Erschießungskommando abkommandiert worden waren, dem Schießbefehl ihres Offiziers nicht. Einer der Soldaten fiel sogar in Ohnmacht. Erst beim dritten Kommando fielen schließlich die Schüsse. Gabar war nicht sofort tot und bekam zwei „Gnadenschüsse“ bis auch er nicht mehr lebte.

Für die übrigen Angeklagten, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen, waren Prozesse für einen späteren Zeitraum anberaumt. Zu Schuldsprüchen kam es in den Wirren der Endphase des Kriegs nicht mehr, aber auch nicht mehr zu Freisprüchen. Das hatte auch etwas damit zu tun, dass die Opposition im Österreichischen Parlament in Wien inzwischen von der Sache erfahren hatte. Der Anführer der Sozialdemokraten, der gebürtige Prager Viktor Adler, sprach beim Kriegsminister vor und protestierte gegen die rechtlich wacklige und übereilte Hinrichtung. Er bekam das Versprechen, dass es keine Todesurteile und Vollstreckungen in Sachen Matrosenaufstand mehr geben sollte – ein Versprechen, dass auch tatsächlich gehalten wurde. Und die vertagten Prozesse fanden aufgrund des Kriegsendes nicht mehr statt. Als nach der Niederlage im Krieg das Habsburgerreich auseinanderfiel und zahlreiche neue „Nationalstaaten“ entstanden, wie Polen, Jugoslawien oder die Tschechoslowakei, wurde dort jeweils der Matrosenaufstand als eine Heldentat im Namen der Selbstbestimmung der Völker wahrgenommen.

Womit wir bei dem Denkmal für die tschechoslowakischen Seeleute auf dem Prager Olšany Friedhof sind. Das wurde im Jahre 1936 an der Mauer des Areals des Friedhofs eingerichtet, in dem sich die Gräber der Opfer des Ersten Weltkriegs befinden (Bild links). Man sieht dort einen Anker, der vor einer Wand liegt, auf der eine große Bronzetafel angebracht ist. Deren Text lautet auf Deutsch übersetzt: „In Erinnerung an die hingerichteten, ertrunkenen und gefallenen toten tschechischen Seeleute, gespendet von der Gemeinschaft ehemaliger Matrosen und den Teilnehmern des nationalen Widerstands an der Adria in Prag – 1936.“ Damit wurde das gängige Geschichtsbild der Ersten Tschechoslowakischen Republik bestätigt, die das Ganze als eine hauptsächliche von Tschechen inspirierte und geführte Aktion im nationalen Geiste interpretierte. Das griff möglicherweise doch ein wenig zu kurz . Allerdings hatte immerhin Konteradmiral Hansa (der unmittelbar nach dem Aufstand von der Marine in den Ruhestand versetzt wurde) vor Gericht attestiert, dass ohne die Führung des Tschechen Rasch der Aufstand kaum so organisiert abgelaufen wäre. Dass Rasch die Hauptperson im Geschehen war, ist auch kaum zu bestreiten. Dass Tschechen insgesamt die Avantgarde der nationalen Befreiung waren, ist wohl trotzdem eine Überhöhung der eigenen Bedeutung, die man sich damals aber gerne erlaubte.

Immerhin hatte der Aufstand eine indirekte Verbindung zur Verkündung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918. Da ja rund 6000 Marineangehörige daran teilgenommen hatte, versuchte die Marineführung die bestehenden Einheiten, in denen man noch „revolutionäre Seilschaften“ vermutete, auseinanderzutrennen, zu deaktivieren oder gar zum Sonderurlaub an Land zu schicken. Auf diese Weise versammelte sich in Prag bald eine Gruppe von rund 80 bis 120 Seeleuten der Marine, die am Aufstand von Cattaro teilgenommen hatten, und die teilweise Beurlaubte, teilweise Deserteure waren. Als am 28. Oktober die provisorische Regierung, der sogenannte Tschechoslowakische Nationalausschuss, die bisher zum Habsburgerreich gehörenden staatlichen Institutionen übernahm, gehörte dazu auch die Entwaffnung und Entlassung der k.u.k.-Garnison in Prag. Ganz ohne militärischen Schutz wollte die Regierung in diesen revolutionären und unruhigen Zeiten aber doch nicht sein, und so wurden die in Prag befindlichen Matrosen des Aufstandes die erste Militäreinheit, die der Ausschuss direkt befehligte. Und auf deren Initiative dürfte dann 1936 das Denkmal errichtet worden sein.

Die nationalpatriotische Deutung der Ereignisse, wie sie sich in dem Denkmal widerspiegelt, war aber längerfristig nicht die dominierende Interpretation im Geschichtsdiskurs. Die roten Fahnen über kakanischen Schiffen, das war ein zu schönes Bild, als dass die marxistische Geschichtsschreibung darauf verzichten konnte, es ideologisch zu instrumentalisieren – selbst wenn es trotz der eindeutig sozialistischen Sympathien von Rasch und vielen seinen Mitstreitern keinen Hinweis darauf gibt, dass sich die Aufständischen (die eher Kontakt zu den österreichischen Sozialdemokraten pflegte) in großem Maße kommunistisch radikalisiert hatten. Den Anfang machte der Journalist und Schrifsteller Bruno Frei, ein Mitglied der KPÖ, im Jahre 1927 mit seinem im Stil einer Reportage geschriebenen Buch Die roten Matrosen von Cattaro. Das Buch wurde dann 1930 wiederum die Vorlage für das recht erfolgreiche Drama Die Matrosen von Cattaro des kommunistischen Schriftstellers und Politikers Friedrich Wolf (übrigens der Vater von Markus Wolf, dem langjährigen Chef der Auslandsspionage der „DDR“). 1957 veröffentlichte der österreichische „Arbeiterschriftsteller“ und Kommunist Franz Xaver Fleischhacker einen Roman zum Thema unter dem Titel „Cattaro. Roman aus den letzten Tagen der k.u.k. Kriegsmarine“. Fleischhackers Buch wirkte einigermaßen authentisch, da er als junger Seemann noch selbst auf einem Torpedoboot bei dem Aufstand dabei gewesen war. Und die Liste kommunistisch geprägter Autoren, die sich mit dem Thema befassten, ließe sich beliebig verlängern. Inzwischen wird das Thema nicht mehr so ideologisch behandelt und die seriöse Geschichtsschreibung hat Einzug gehalten. Zum 100. Jahrestag erschienen einige gute Monographien, wie etwa Peter Fitls Buch „Meuterei und Standgericht“ (2018), die mithin darauf hinwiesen, dass dem Aufstand ja gerade eine größere revolutionäre Perspektive fehlte, weshalb er als isoliertes Ereignis auch nicht einen generellen Umsturz bewirkte. Er sei nicht vergleichbar mit dem Kieler Matrosenaufstand in Deutschland im November 1918, der tatsächlich das Ende des wilhelminischen Reiches bedeutete. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine sehr bittere Episode aus dem Ersten Weltkrieg, die uns durch das Denkmal in Prag wieder ins Gedächtnis gerufen wird. (DD)

PS: Unter der Gedenktafel für die Matrosen von 1918 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine kleine Zusatztafel (Text übersetzt: „Wir werden die gestorbenen Brüder nicht vergessen, 1939-1945“) angebracht (Bild oberhalb rechts), die daran erinnert, dass es auch in diesem Krieg tschechoslowakische Seeleute gab, nämlich freiwillig bei der britischen und später bei der amerikanischen Marine dienende Exilanten, die auf hoher See ihren Beitrag leisten wollten, Hitler zu besiegen.

Großer Dichter – von den Falschen geehrt

Taras Hryhorowytsch Schewtschenko, der große ukrainische Nationaldichter des 19. Jahrhunderts, war persönlich nie in Prag. Aber trotzdem verbindet ihn und seinen Nachruhm viel mit der goldenen Stadt an der Moldau. Die gusseiserne Gedenktafel in der Opletalova 929/22 (Ecke Politických vězňů) in der Neustadt zeugt davon.

Schewtschenko hatte das Pech geboren zu werden, als die Ukraine noch zum russischen Zarenreich gehörte. Dort gab es noch Leibeigenschaft und Schewtschenko wurde noch 1814 als Leibeigner geboren. Sein Leben lang sollte er gegen die Institution kämpfen. Gottlob fand er Gönner, die seine künstlerischen Talente erkannten und ihn förderten. Erst 1838 konnte er sich sogar aus der Leibeigenschaft freikaufen. Zunächst erwarb er sich einen Ruf als Maler, aber ab 1840 wandte er sich neben der Malerei auch der Dichtung zu, u.a. mit dem Gedichtband Kobsar, der ihn berühmt machte. Als liberaler Ukrainer wurde er den zaristischen Behörden allerdings bald zu unangepasst und so wurde er 1847 zwangsweise zum Militär eingezogen und erhielt Schreib- und Malverbot. Auch nach seiner Begnadigung 1857 wurde er immer wieder verhaftet. Aber da war er für die Ukrainer schon eine Art Volksheld. Als er 1861 starb, fanden sich unzählige Trauergäste ein, darunter Fjodor Dostojewski. In der Ukraine gibt es kaum eine Stadt ohne ein Denkmal für ihn.

Schewtschenko wird in Prag an zwei Orten geehrt, einmal im Stadtteil Smíchov (Prag 5), wo seit 2009 ein großes Denkmal steht, über das wir schon hier berichteten, und dann die hier gezeigte Tafel in der Opletalova. Das um 1830 entstandene Gebäude im Stil des Klassizismus, an dem sie sich befindet, ist tatsächlich mit Schewtschenkos Namen verbunden. In Russland durften seine Werke nie ungekürzt und unzensiert erscheinen. Im liberaleren Kakanien war das möglich. Und so erschienen tatsächlich viele Werke Schewtschenkos zuerst hier. Im Haus befand sich die Druckerei der von dem tschechisch-nationalliberalen Journalisten und Politiker Julius Grégr seit 1861 herausgegebenen politischen Zeitschrift Národní listy (Volksblätter). Die sah es als selbstverständliche Aufgabe an, dem verfolgten Dichter im Zarenreich zu helfen.

Der Text der Tafel lautet: „In Erinnerung an den großen ukrainischen Dichter und Revolutionäre Taras Schewtschenko, 1814-1861, Sein Gedichtband ‚Kobzar‘ es wurde zum ersten Mal unzensiert im Volltext von der Grégr’schen Druckerei in diesem Haus 1876 ​​in Prag veröffentlicht.“ Es ist also der richtige Ort, um den richtigen Mann zu ehren. Bizarr ist jedoch die Geschichte, wie die Tafel dahinkam. Sie wurde hier 1964 angebracht und ist das Werk des Bildhauers und Medailleurs Jiří Prádler. Unter dem Text steht, dass sie eine Spende der Union der Tschechoslowakisch-Sowjetischen Freundschaft (Svaz československo-sovětského přátelství) gewesen sei, einer Massenorganisation, die um diese Zeit in der Tschechoslowakei über 1,5 Millionen Mitglieder zählte, wohl weil man bisweilen einfach dazu drangsaliert wurde – es gab z.B. kollektive Eintritte von Fabrikbelegschaften, bei denen niemand fragte, ob man das wolle, und niemand sich traute zu sagen, dass er es nicht wolle.

Nun ja, die Ukraine hatte 1991 mit großer Referendums-Mehrheit sich aus der Sowjetunion gelöst. Und Schewtschenko wäre gewiss kein Freund der zurecht evil empire genannten UdSSR gewesen, deren Unterdrückungsapparat das Leben von vielen Millionen Ukrainern auf dem Gewissen hatte (Stichwort: Holodomor). Auch haben die Tschechen immer eine große Sympathie für die Ukraine und ihre Selbständigkeit gezeigt. Und heute wird die Ukraine von einem Herrscher in Moskau mit einem Krieg überzogen, der den Untergang der Sowjetunion von Anfang an als größte geopolitische Katastrophe bezeichnet hatte und seither an ihrer territorialen Wiederherstellung arbeitet. Und nur vier Jahre nach der Anbringung der Tafel, rollten sowjetische Panzer in Prag ein, um den Prager Frühling niederzuschlagen. Nein, dass passt nicht, dass ausgerechnet die Freunde der Sowjetunion hier Schewtschenko ehrten. Man sollte den Hinweis vielleicht als ein zeitgenössisches Dokument der geistigen Verwirrung des kommunistischen Regimes betrachten. Und der eigentliche Text ist ja völlig neutral und es ist gut, dass daran erinnert wird, dass der große Dichter einst hier im schönen Prag frei publiziert werden konnte. (DD)

Idylle und Widerstand

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Das Treffen im schönen Pfarrhaus von Vinoř wurde ihr zum Verhängnis. Heute vor 72 Jahren, am 27. Juni 1950, wurde die unbeugsame Demokratin und Widerstandskämpferin Milada Horáková durch das kommunistische Regime hingerichtet. Der Hinrichtung ging ein absurder Schauprozess stalinistischer Prägung vorweg, der mit Hilfe fabrizierter Indizien den Vorwurf des Landesverrats bestätigen sollte. Der Schuldspruch und das Todesurteil standen von vornherein fest.

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Horáková, die unter den Nazis ins Konzentrationslager gesteckt worden war, um nur zu sehen, dass nur drei Jahre nach dem Krieg ein neues totalitäres Regime – diesmal im roten Gewande – die Demokratie im Lande zerstörte, war natürlich keine Landesverräterin. Aber sie stand dazu, für die Demokratie zu kämpfen, und als das Regime beim Abschlussplädoyer der Angeklagten eine Selbstbezichtigung mit anschließender Loyalitätserklärung zum „Großen Bruder“ Klement Gottwald verlangte, verweigerte sie sich – anders als ihre Mitangeklagten, die glaubten, sie könnten so ihr Leben retten.

Tatsächlich basierte der Vorwurf des Landesverrates nur darauf, dass Horáková sich einmal mit anderen Oppositionellen getroffen hatte, um mit ihnen die Lage zu erörtern. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Kommunisten, die im Februar 1948 an die Macht gekommen waren, bereits alle nicht-kommunistischen Parteien verboten. Am 25. September 1948 fand daher ein geheimes Treffen statt, das Horáková mit einberufen hatte, um die verschiedenen demokratischen Oppositionsgruppen zusammenzubringen. Der Ort des Treffens war das alte Pfarrhaus im Norden Prags etwas auswärts gelegenen nördlichen Stadtteil Vinoř.

Mit bei dem Treffen waren der Pädagoge (und Bruder des Ex-Präsidenten Edvard Beneš) Vojta Beneš von den Sozialdemokraten, der Anwalt und Politiker Vojtěch Jandečka von den Christdemokraten, der Verwaltungsbeamte und ehemalige Abgeordnete Josef Nestával, der wie Horáková der linksliberalen Nationalsozialen Partei angehörte, und der parteilose Verfassungsrechtler Zdeněk Peška. Die Möglichkeit gewalttätigen Widerstandes, den die Kommunisten später unterstellten, war nicht einmal ein Gedankenspiel. Es ging um die Frage, ob es so etwas wie ein koordinierendes Dachgremium des bürgerlichen Widerstandes geben sollte, aber auch dieser Vorschlag fiel als zu weitreichend und gefährlich durch. Man verblieb, dass man sich ab un an mit Informationen austauschte, um eventuelle Gegensätze besprechen zu können.

Alles in allem ein recht mageres Ergebnis und gewiss weit entfernt von irgendeiner auch nur ansatzweise sinnvollen Definition des Begriffs Landesverrat. Aber 1949 nahm die Verfolgung von Oppositionellen neue Dimensionen an und die Teilnehmer des Treffens fielen umgehend der Verfolgung zum Opfer. Beneš konnte sich der Verhaftung noch entziehen und floh in die USA, wo er zwei Jahre später starb. Jandečka wurde verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, Peška wurde zu 25 Jahren verurteilt, aber 1960 begnadigt, Nestával sollte lebenslang im Gefängnis sitzen, wurde aber 1963 unter Auflagen freigelassen. Horáková, die bekannteste unter ihnen, ging jedoch in den Tod.

An dem hübschen Pfarrhaus in Vinoř wurde im Oktober 2002 eine Gedenktafel angebracht, auf der den Widerstandskämpfern, die sich hier dereinst trafen, gedacht wird. Das Haus am idyllischen Vinořské náměstí (Vinořplatz) mit seiner ebenso idyllischen barocken Dorfkirche und der Statue des Heiligen Nepomuk davor stammt aus dem Jahre 1738 und wurde von dem Architekten Johann Christian Spannbrucker erbaut. Das Haus verfügt über zusätzliche Wirtschaftsgebäude und einen großen Hof. Deshalb war hier auch ein kleines Haus des Mönchsordens der Salesianer untergebracht.

Und daher erinnert die Plakette auch zugleich an eine andere kommunistische Schandtat, nämlich die berüchtigte Aktion K (Akce kláštery, dt.: Aktion Klöster), die ebenfalls 1950 einsetzte. Mit ihr lösten die Kommunisten gewaltsam alle Orden und Klöster auf und internierten die meisten Mönche und Nonnen. In der ersten Nacht, vom 13. auf den 14. April 1950, wurden im Salesianerhaus des Pfarrhauses die Ordensbrüder Metoděj Hasilík, Augustin Holík und František Mikulík von der Geheimpolizei verhaftet, interniert und mit Berufsverbot belegt.

Geht man über den so idyllischen Dorfplatz, ahnt man kaum, was sich hier dereinst an Verbrechen abspielte. (DD)

Kleiner Toleranzfriedhof

Der Toleranzfriedhof (Toleranční hřbitov) in der Huberova im Stadtteil Ruzyně (Prag 6) ist eine Rarität. Es gab in Prag überhaupt nur zwei davon und der zweite, der 1795 im Ortsteil Strašnice angelegte Toleranzfriedhof, existiert schon lange nicht mehr. Aber was ist ein Toleranzfriedhof überhaupt?

Um das zu verstehen, muss man zurück in das Jahr 1620. In diesem Jahr fand bei Prag die Schlacht am weißen Berg statt, der den (österreichischen) Habsburgern die Herrschaft sicherte und de facto die Unabhängigkeit und Freiheit der Böhmen beseitigte. Im religiös bis dato recht toleranten und weitgehend protestantischen Böhmen setzte nun eine rigorose Katholisierungspolitik ein. Die Protestanten wurden systematisch unterdrückt. Es gab für sie keine Gottesdienste, Kirchen oder Friedhöfe mehr.

Dann kam das Jahr 1781. Kaiser Joseph II. dekretierte in diesem Jahr sein Toleranzpatent. Für die Protestanten bedeutete das ein wenig mehr an Freiheit. Sie durften wieder Gottesdienste abhalten. Auch durften sie Kirchen haben, die aber nicht so aussehen sollten. Toleranzkirchen (über ein Beispiel in Prag berichteten wir hier) hatten etwa keine Glockentürme und mussten wie normale Wohnhäuser aussehen, damit sich die Katholiken nicht vom Anblick provoziert fühlten. Die Toleranz hatte also noch enge Grenzen. Nun, und die Protestanten durften von nun an auch eigene Friedhöfe haben – und die nannte man Toleranzfriedhöfe.

Der hier in Ruzyně wurde zwischen 1784 und 1788 angelegt. So genau weiß man es gar nicht. Aber es war auf jeden Fall bald nach der Verkündung des Toleranzpatents. Dass der Friedhof damals etwas außerhalb der Stadt (deren Randgebiete ihn inzwischen Dank des Bevölkerungswachstums seither eingeholt haben) angelegt wurde, hat nichts mit seinem Status als letzte Ruhestätte von Angehörigen einer eher als randständig gesehenen Religionsgemeinschaft zu tun. Unter Joseph II. wurden generell aus Gründen der Krankheitsverhütung die kleinen Kirchhöfe in der Innenstadt aufgelöst und durch größere Friedhöfe weiter außerhalb ersetzt.

Ein großer Friedhof war der Toleranzfriedhof jedoch nicht. Nur 16,5 mal 10,5 Meter maß das Grundstück ursprünglich. Das ist winzig, aber es reichte aber für lange Zeit aus, da der Friedhof nur die Angehörigen der protestantischen Minderheit in einigen sehr, sehr kleinen Gemeinden abdeckte, nämlich Střešovice, Ruzyně, Lysolaje, Veleslavín, Šárka, Podbaba, Sedlec, Podhoří und Stodůlky – auch sie lagen damals noch außerhalb von Prag. Ursprünglich war der Friedhof damit sogar noch kleiner als er es heute ist. 1860 erfolgte eine kleine Erweiterung, bei der die kleine Mauer, die ihn heute umgibt, neu gebaut wurde.

Während der Revolution von 1848 in Prag rückte der Toleranzfriedhof noch einmal in den Mittelpunkt der Geschichte. Hier versammelten Angehörige der revolutionären Studentenbewegung, um einer Brandrede ihres radikalen Anführers, dem Schriftsteller Josef Václav Frič, zuzuhören. Der Friedhof liegt ganz in der Nähe des Schlachtfelds der Schlacht am Weißen Berg, wo die Habsburger sich gegen die aufständischen Böhmen durchsetzten und danach die Unabhängigkeit und die Glaubenfreiheit des Landes beseitigten. Die Studenten forderten hier an dem symbolträchtigen Toleranzfriedhof, dass die Gefallenen der Schlacht hier ein nachträgliches Heldenbegräbnis bekommen sollten. Daraus wurde nichts, weil die Revolution schon sehr bald niedergeschlagen wurde.

Als Kaiser Franz Josef im Jahr 1867 die völlige Religionsfreiheit verkündete, gab es keine formale Begründung mehr für einen gesonderten Toleranzfriedhof. Multikonfessionelle öffentliche Friedhöfe (Beispiel hier) begannen auch in Prag das Bild der Begräbniskultur zu bestimmen. Trotzdem fanden immer noch ab und zu Beerdigungen auf dem alten Toleranzfriedhof statt. Die letzte erfolgte 1945, als hier Václav Kubát zu Grabe getragen wurde, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einem Mord zum Opfer gefallen war. Sein Grab sieht man im kleinen Bild rechts.

Der Friedhof liegt in einem kleinen Waldstückchen an einem Hang. Etliche der Grabsteine sind im Laufe der Zeit verschwunden, aber man kann die Grabfelder noch gut erkennen. Seit 1958 ist er geschütztes Kulturdenkmal und seit 1963 sogar ein Nationales Kulturdenkmal. Und man findet noch viele schöne alte und neuere Grabsteine. Viele sind mit dem Symbol des Kelches geschmückt, das in Tschechien seit der Zeit der Hussiten für ein reformatorisches Verständnis von Christentum steht. Der Friedhof gehört übrigens zu den kleinsten in ganz Prag. (DD)