
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert liebten es die Tschechen, ihre Wohnbauten mit nationalgeschichtlichem Pomp auszustatten. Damit unterstrich man seine vom österreichischen Habsburgertum abgesetzte patriotische Gesinnung.

Ein besonders schönes Beispiel für in Stuck gegossene Nationalmythologie befindet sich auf dem Giebel des U Bivoje genannten vierstöckigen Mietshauses. Dort oben sieht man ihn ankommen, den wackeren Helden Bivoj – ein erjagtes Wildschwein auf dem Rücken tragend. Muskulöse slawische Krieger, wie frisch dem Bodybuilding-Studio entsprungen, begleiten ihn.

Holde Damen warten am nahen Tor, von denen eine Kazi heißt und sich in Bivoj umgehend verliebt. Kazi ist eine Schwester von Libuše, der legendären Begründerin des böhmischen Herrschergeschlechts der Přemysliden (siehe auch hier). Schließlich hatte der Eber, den Bivoj erlegte, bereits die ganze Umgebung von Kavčí hory im Süden von Prag verwüstet und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Kein Jäger hatte ihn töten können – nur eben der wackere und starke Bivoj. Gleich wird Kazi den toten Eber zu Füßen gelegt bekommen. Und dahinschmelzen….!

Die schöne Sage von Bivoj und Kazi aus der Frühgeschichte Böhmens entstammt der Dalimil Chronik aus dem 14. Jahrhundert, die übrigens die älteste überlieferte Chronik in tschechischer Sprache ist. Und Bivoj wurde, so heißt es in ieser Chronik, reich belohnt durch die Liebe von Kazi. Der gemeinsame Sohn Rodislav sollte zu Ehren der Heldentat einen Eberkopf im Wappen führen dürfen. Und noch 1980 nannte man einen Asteroiden (Nummer 5797) nach Bivoj. Die Unsterblichkeit war gesichert.

Das große Jugendstil-Wohnhaus, an dessen Giebel sich das sehr opulente Stuckrelief befindet, wurde in den Jahren 1909/10 von dem Architekten Václav Řezníček erbaut, der in Prag zahlreiche Jugendstilhäuser erbaut hat. Es steht am Rande des Ostrčil Platzes (Ostrčilovo náměstí 518/1), der 1952 nach dem Komponisten Otakar Ostrčil benannt wurde. Im Erdgeschoss befindet sich heute übrigens eine Filiale der Stadtbücherei.

Der Künstler, der das Stuckrelief gestaltet hat, schuf damit eine besonders dynamisch aufgebaute Szenerie, die unter den vielen schönen Fassaden mit altböhmischen Legenden und Sagen-Motiven, die es in Prag zu sehen gibt, (früheres Beispiel hier). Hier wurde der besondere Effekt auch dadurch erreicht, dass der wackere Bivoj sich unter des Last des gewaltigen Ebers, den er erledigt hat, nach vorne beugt und dreidimensional aus dem Relief ragt. So wird Bivoj der optische Mittelpunkt der Darstellung.

Darüber sollte man nicht – aller Überwältigung zum Trotz – übersehen, dass das Haus auch noch außer dem Giebel und seinem Legendenbild viel zu bieten hat. Die beiden Erkertürme an den Ecken verleihen ihm einen burgähnlichen Charakter, der die archaische Szene aus der frühen Slawenzeit unterstreicht. Überall befinden sich Stuckornamente in feinstem Jugendstil, wie etwa die oberhalb rechts abgebildete Maskaron. Da das Haus direkt bei den schönen Wiesen im Tal des Botič liegt, lohnt sich ein kleiner Spaziergang dahin auf jeden Fall. (DD)