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Sie halten mit ihrem absurden Auftritt oft der „großen“ Politik den Spiegel vor das (manchmal nicht so schöne) Gesicht. In vielen Ländern gehören sie irgendwie fest zur politischen Kultur: die sogenannten Spassparteien. In Deutschland ist es seit 2004 Die Partei. In Großbritannien beglückt uns schon seit 1983 die Official Monster Raving Loony Party des inzwischen verstorbenen Lord Sutch. Und in Ungarn gibt es seit einiger Zeit die Magyar Kétfarkú Kutya Párt (Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes). Aber wer weiß schon, dass die Urmutter aller Spaßparteien schon 1904 in Prag – genauer: im Stadtteil Vinohrady – entstand? Gründet wurde sie von keinem Geringeren als Jaroslav Hašek, dem Autoren des berühmten Braven Soldaten Schwejk: die Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes – auf Tschechisch: Strana mírného pokroku v mezích zákona (griffig abgekürzt: SMPVMZ).
Richtig in Erscheinung trat die Partei erst 1911 bei den österreichischen Reichstagswahlen. Da kandidierte Hašek als Wahlkreiskandidat der Partei fúr den Wahlkreis in Vinohrady. Um ihn hatte sich der eher anarchische Teil der Bohème des Stadtteils geschart und sicher ist, dass alle dabei wirklich Spaß hatten. Der Name der Partei spielte dabei auf eine Rede Kaiser Franz Josefs an, in der er betont hatte, er sei ja nicht gegen Fortschritt, aber er müsse in den geordneten Bahnen der Habsburgermonarchie stattfinden. In ihren Reden und Pamphleten parodierten oder verhöhnten die Mitglieder – allen voran Hašek – Politiker jeglicher Coleur und arbeiten an ihrer eigenen parodistischen Selbstüberhöhung: „Als Anführer der Partei des gemäßigten Fortschritts im Rahmen des Gesetzes und als ihr Kandidat“, tönte er, “ muss ich mein Tun und Lassen auf das Objektivste und zugleich übersichtlich beurteilen, damit niemandem auch nur ein glänzender Punkt meines Charakters entgeht. Es gibt Augenblicke in meinem Leben, da ich, von meiner eigenen Tat begeistert, vor mich hinflüstere: ‚Mein Gott, bin ich ein Mordskerl!'“
Man stellte Forderungen auf, wie die Verstaatlichung der Hausmeister oder, dass jeder Bürger ein Taschenaquarium besitzen solle. Am Ende kamen 36 Stimmen dabei heraus. Man ist sich nicht einmal sicher, ob die Partei wirklich registriert war. Aber das war egal. Denn die Partei hatte die Lacher auf ihrer Seite und blieb bis heute Teil der politischen Folklore Tschechiens. Kurz nach der Samtenen Revolution, die den Kommunismus (der solchen Spässen abgeneigt war) im Jahre 1989 beendete, gab es sogar den Versuch einer Neugründung unter gleichem Namen.
Dieser Versuch selbst hinterließ jedoch keinen tiefen Eindruck. Die Idee der Spaßpartei lebt in Tschechien aber weiter. Das merkt man, wenn man heute in Vinohrady auf den Spuren von Hašeks Partei wandelt. Von denen gibt es wenige, die noch sichtbar sind, denn seit 1911 hat sich auch in Vinohrady viel verändert. Aber in der Balbínova 323/6 (zu Hašeks Zeiten noch als 323/15 nummeriert) findet man dann doch an der Wand eines Gebäudes eine kleine Tafel. Man sieht sie oben im großen Bild. Die Inschrift lautet auf Deutsch: „In diesem Haus, in der ehemaligen Kneipe in U Zlatého Litru (Zum Goldenen Liter), wurde die Partei des gemäßigten Fortschritts innerhalb der Grenzen des Gesetzes von Jaroslav Hašek und seinen Kumpanen gegründet.“
In dem Gebäude befindet sich eine schon von außen leicht skurril wirkende Kneipe, die zugleich ein politisches Kabarett beherbergt, die Balbínova poetická hospůdka (Die poetische Balbínova-Kneipe). In der Kabarettkneipe wurde 2002 die Balbínova poetická strana (Die poetische Balbínova-Partei) gegründet – eine würdige Nachfolgepartei der SMPVMZ. Kneipenbesitzer und Parteigründer Jiří Hrdina, der sich bei seinen Kandidaturen gerne als „geniální guvernér“ (genialer Gouverneur) bezeichnet, hat bei seiner Kampagne zu den nationalen Parlamentswahlen 2006 sich nach Kräften über die undurchsichtige Politik des Landes lustig gemacht und dabei am Ende landesweit 6896 Stimmen oder, anders gesagt, 0,12 Prozent geholt. Zum Parlamentseinzug reichte das nicht, hinterließ aber das segensreiche Gefühl, dass es doch noch viele Tschechen mit Humor geben muss. Das Markenzeichen Hrdinas ist übrigens der von ihm ständig getragene Bowlerhut, der dann auch in vergrößerter Form das Portal seiner Kneipe schmückt.
Aber der Ort, den der Leser der wilden Schilderungen Hašeks, die er später als Buch (das in einer sehr schönen Edition auch in Deutsch erhältlich ist) veröffentlichte, am ehesten mit seiner Partei verbindet, ist zweifellos der Kravín (Kuhstall). Wer am Náměstí Míru, dem Hauptplatz von Vinohrady, entlangschlendert, der wird schnell ein Restaurant dieses Namens entdecken. Das ist zwar ein nettes und preiswertes Restaurant, ist aber nicht mit dem Kravín identisch, das als der zentrale Versammlungsort der Partei des gemäßigten Fortschritts in die Geschichte einging und liegt auch nicht an der selben Stelle.
Um die zu finden, muss man vom Náměstí Míru einige hundert Meter die Korunní hochgehen. Von dem originalen Kravín sieht man dort heute nichts mehr. Der Ort, wo sich das Wirtshaus befand, war am Ende des 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein wenig außerhalb der Stadt gelegen, quasi im Grünen. Auf vielen alten Bildern sieht man das Gebäude direkt neben einem hölzernen Theaterbau, der 1893 erbauten Pištěkova Arena (Pištěksches Arena Theater), stehen, der aber 1932 abgerissen wurde. Theater und Kravín befanden sich in der Budečska nur wenige Meter südlich der Kreuzung zur Korunní. Heute sind dort nur noch große Wohnhäuser und man kann nur ahnen, wo sie sich dereinst befanden. Auf dem Bild rechts könnte das vordere Gebäude der Standort des Theaters gesehen sein, dahinter der des Kravín.
Der ursprüngliche Kravín an diesem Ort war aber nicht die Gaststätte, in der die Wahlversammlungen der SMPVMZ stattfanden, denn dieses alte Gebäude, das noch einem richtigen Landgasthaus glich, wurde schon 1896 abgerissen. Das Kravín entstand danach allerdings sofort wieder neu und zwar nur wenige Meter entfernt an der nördlichen Ecke der Kreuzung; genauer: an der Budečska 781/25. Hier müssen also die recht turbulenten Versammlungen stattgefunden haben. Dieses neue Gebäude existiert auch tatsächlich noch (Bild links), ist aber schon seit ewig langen Zeiten keine Kneipe mehr. Zur Zeit residiert im Erdgeschoss ein Yogastudio und es fehlt ihm dadurch die etwas anarchische Ausstrahlung, die man gerne erwarten würde.
Immerhin kann man über dem Eingang des Hauses immer noch den in neobarock gestaltetem Stuck gefassten Schriftzug „Kravín“ sehen, über dem – ganz passend – ein Rinderkopf (ebenfalls in Stuck) angebracht ist. Das sieht eigentlich schon fast zu vornehm aus, wenn man bedenkt, welch raues Kneipenleben hinter den Türen dereinst herrschte.
Genaueres kann man über die Geschichte des Wirtshauses hier (auf den Absatz über den Kravín herunterscrollen!) nachlesen. Auf der Seite findet man übrigens sämtliche nachgewiesenen (!) Kneipen und Wirtshäuser, die Jaroslav Hašek im Laufe seines Lebens frequentiert haben soll. Da der Mann so trinkfest war wie sein berühmter Soldat Švejk, kam da ganz schön was zusammen. (DD)
Siehe auch: Auf den Spuren Jaroslav Hašeks II: Im U Kalicha
Und: Auf den Spuren Jaroslav Hašeks III: Das Denkmal
Ebenfalls: Auf den Spuren Jaroslav Hašeks IV: Geburtsort in der Gendarmeriewache
Nicht zu vergessen: Auf den Spuren Jaroslav Hašeks V: Švejk mit Hundeköttel
Schließlich: Auf den Spuren Jaroslav Hašeks VI: Großes Kino bei den Vierzehn Nothelfern