Heute vor genau 100 Jahren wurde die Erste Republik der Tschechoslowakei ausgerufen. Es ist Nationalfeiertag. Das große Ereignis fand damals im Obecní dům (Gemeindehaus) am Platz der Republik statt – und man kann sich für die Ausrufung einer Republik keinen angemesseneren Rahmen vorstellen. Und dieses Ereignis feiert man hier auch jedes Jahr (und dieses Jahr besonders heftig!) mit einer großen Konzertaufführung von Smetanas großer Symphonie Ma Vlast (Mein Vaterland). Da bleibt kein Auge trocken, wenn erst einmal die Moldau ertönt.
Wenn man in Prag nach dem Highlight des Jugendstils sucht – und das will angesichts des Angebots, das diese Stadt bietet, etwas heißen! -, dann hat man hier den Ort schlechthin gefunden. Als am Ende des Ersten Weltkriegs die Unabhängigkeit von der österreichisch-ungarischen Monarchie und zugleich die Republik proklamiert wurde, war es eines der neuesten und avangardistischsten Gebäude der Stadt. Zwischen 1905 und 1911 hatte man das gigantische, aus zwei schräg aneinandergesetzten Flügeln bestehende Bauwerk nach den Entwürfen Antonín Balšánek und Osvald Polívka errichtet – ironischerweise genau dort, wo zuvor seit dem 14. Jahrhundert der böhmische Königshof gestanden hatte.
Der wurde für den Bau des neuen Gebäudes 1902 abgerissen.
Das Gemeindehaus sollte das zentrale Kulturzentrum der Bürger Prags werden. Ausstellungen, Vorführungen, Musikkonzerte – alles wurde von Anfang im großen Stile geboten, was bis heute so geblieben ist. Dazu noch die Geselligkeit: Ein von Touristen oft angesteuertes Café mit hervorragendem Kuchenangebot, ein französisches Luxusrestaurant und die größte Pilskneipe der Stadt im Keller – alles in einem Gebäude. Da kann man nicht meckern.
Aber der eigentliche Kulturgenuss ist natürlich das Gebäude selbst. Sowohl innen wie außen waren die bedeutendsten der bedeutendsten tschechischen Künstler der Zeit an der Gestaltung beteiligt, die damit auf ganz bewusst ihren patriotischen tschechischen Bürgersinn kundtun wollten: Mikoláš Aleš, Alfons Mucha, Josef Myslbek, Ladislav Šaloun und viele andere, darunter der Maler Karel Špillar, der das große halbrunde Mosaik über dem Haupteingang schuf, das die Apotheose von Prag darstellen soll und mit den schön schwülstigen Worten des Nationaldichters Svatopluk Čech (früherer Beitrag hier) verziert ist: „Heil dir Prag! Biete der Zeit der Bosheit die Stirn, wie du über die Jahrhunderte allen Stürmen standgehalten hast!“.
Die Kunstvielfalt bezieht sich nicht nur auf die unzähligen Bildhauerarbeiten, Gemälde und Mosaike, die sich in und am Gebäude befinden, sondern sogar auf die alltäglichen Einrichtungsgegenstände wie die Wandlampen.
In den Zeiten des Kommunismus wurde das Gebäude zwar instandgehalten, war aber nach der Samtenen Revolution dann doch renovierungsbedürftig. 1994 bis 1997 wurde es blitzblank und in alter Pracht restauriert. Bei der Samtenen Revolution spielte das Gebäude, wie seinerzeit bei der Ausrufung der Republik 1918, eine wichtige Rolle. Hier fanden im November 1989 die ersten Verhandlungen des „Runden Tischs“ zwischen der von Vacláv Havel geführeten Opposition und den kommunistischen Herrschern statt, die mit dem Ende des Kommunismus endeten.
Heute strömen weniger die großen Macher der Politik ins Gemeindehaus (außer beim oben genannten Konzert zur Republikgründung), sondern Touristen, Kulturbeflissene oder kulturbeflissene Touristen. Sie finden in den Ausstellungsräumen, Geschäften, Kneipen, Restaurants, Cafés genügend Interessantes – und natürlich vor allem auch in den Konzertsälen. Von denen ist der Smetanasaal der größte, ja der größte überhaupt in ganz Prag. 1259 Plätze Kapazität auf 897 Quadratmetern – das ist schon beeindruckend. Und mit einer Riesenorgel ausgestattet, über die wir schon hier berichteten.Kein Wunder, dass sowohl die Tschechische Philharmonie (allerdings nur während der Zeit als ihr Stammhaus Rudolfinum zum Parlament umfunktioniert war – siehe hier) und die Prager Symphoniker das Gemeindehaus mit diesem Saal zu ihrer „Heimat“ erklärt haben. Das bedeutet Musikgenuß in opulentestem Jugendstilprunk. Der kompensiert die zugegebenermaßen wegen der Größe des Raums etwas von Halleffekten gestörte Akkustik im großen Saal. Der Besuch ist jedenfalls das ganz große Erlebnis! (DD)